Im Herbst 1900 wanderten sieben junge Menschen von München über die Alpen, um im Süden eine Kolonie der freien Liebe zu gründen. Oberhalb Ascona am Lago Maggiore entstand die Siedlung Monte Veritá, Berg der Wahrheit, die zur Wiege der Alternativbewegung wurde. Ihre Vordenker waren der Dichter und Maler Gustav Arthur Gräser (geboren 1879) und sein älterer Bruder Karl aus Kronstadt in Siebenbürgen. Durch sein unstetes Leben außerhalb der Regeln der Gesellschaft wurde Gusto Gräser, der sich auch Arthur Siebenbürger nannte, zum Symbol für Aufbruch und Neubeginn, zum Vorläufer der Kriegsdienstverweigerer, der Friedens- und Umweltbewegung. Der Hüne mit dem langen Rauschebart gilt gemeinhin als der erste Aussteiger, der erste Hippie.
Fernab der Städte mit ihren zivilisatorischen Auswüchsen lag nun die Landkommune Monte Verità. Ihr legendärer Ruf drang weit über die Landesgrenze und lockte Neugierige aus allen Ländern an. Gusto Gräser, Wanderdichter und "barfüssiger Prophet", war Kriegsgegner, Vordenker einer neuen Menschheit ohne Herr und Knecht sowie ohne Zerstörung der Natur und Ikone mehrerer Jugendbewegungen. Einer von Gräsers Verehrern war Hermann Hesse, der seinen Freund und Meister in "Demian" als Verheißer eines kommenden irdischen Paradieses porträtierte und ihn damit für die Nachwelt unsterblich machte. 1958 starb Gräser vereinsamt in seiner Dachkammer in München, ohne eine einzige Zeile seines großen Werkes je gedruckt zu sehen.
Dichter wie Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse erhoben ihn in mythischen Rang. Kulturhistoriker sehen ihn heute als „Gandhi oder Laotse des Westens“. Als Gräser 1926 wieder mal aus Bayern ausgewiesen werden sollte, schrieb Thomas Mann: „Dieser Mann ist reinen Herzens und liebt Deutschland. Er meint es gut und freundlich mit uns, und gut und freundlich sollte man ihm begegnen“. Denn immer wieder warb Gräser in öffentlichen Vorträgen in Stuttgart, Dresden, Berlin und München bei den Menschen für den Frieden, gegen die Rüstung, gegen die Staatsgewalt. Seine Texte ließ er zeitweise im Antikriegsmuseum in Berlin als Lithographien drucken.
"Ich lebe nackt und aufmerksam wie ein Hirsch in meinem Geklüfte", schreibt Hermann Hesse 1907 im Wald von Arcegno, eine Stunde hinter Ascona in den Südalpen der Schweiz (Mat. Siddh. II, 345). Er lebt in Gräsers Felsenheim, einer Höhle im Gebirge. Nackt, fastend und meditierend sucht er dem Weg seines Freundes zu folgen. Dieses "Noviziat" in der "thebaischen Wüste" im Rücken des Monte Verità wird ein weithin wirkendes Motiv seiner Dichtung.
»Die Höhlung liegt zwischen zwei hausgroßen, gegeneinander geneigten Blöcken, knapp neben einer großen Felsenwand, in einer vegetationsarmen, rauhen Gegend (…) Hier, etwa eine Stunde nordwestlich von Ascona, drin im Gebirg, wird vielleicht eine Abteilung für Höhlenbewohner, Einsiedler, Säulenheilige etc. entstehen.«
1907 schreibt Hesse den wenige Seiten langen Text in den Felsen. Notizen eines Naturmenschen, der die Sanatoriumserfahrung auf dem Monte Verità und die einsamen Streifzüge in der Felsengegend von Arcegno frei verarbeitet.
„Ich lebe nackt und aufmerksam wie ein Hirsch in meinem Geklüfte, bin dunkel rotbraun, schlank, zäh, flink, habe verfeinerte Sinne. Ich rieche reife Erdbeeren von weitem, kenne die Winde, Stürme, Wolkenformen und Wetterzeichen des Landes. Seit drei Wochen kenne ich kein Bett, kein Feuer, kein Brot, kein Fleisch, kein Gemüse, kein Gewürz, nicht Löffel noch Gabel, nicht Schüssel noch Becher. (…) Ich höre und sehe das Leben der Erde, lebe und atme mit, bin ruhig und bescheiden geworden. Meine Arbeit ist: das Suchen von Beeren und Waldkirschen, das Flechten kleiner korbartiger Schalen zum Aufbewahren dieser Dinge, das Ausgraben einer Vertiefung im Bachbett, damit mir später nicht etwa das Trinkwasser ausgehe. Doch habe ich auch die Kunst gelernt, einen halben oder einen ganzen Tag gar nichts zu tun, auf einem Felsen zu sitzen, der von Sonne glüht, die Bildungen der Moose zu betrachten und zu warten, ob etwa ein Sperber vorüberfliegt.“
der zage Frühlingsregen tröpfelt sacht,
Im kahlen Wind aufflimmert Birkenlaub,
Braunspiegelnd widerglänzt der nasse Fels …
Hier ist mein heiliges Land, hier bin ich hundertmal
den stillen Weg der Einkehr zu mir selbst gegangen ...“
„Hier atmen falterhaft Gedanken fort,
die ich vor Jahren hier in Fels und Ginster,
in Sonnenhauch und Wind erjagt –“
„Die ersten Tage meiner Einsiedlerschaft sind schrecklich gewesen. (...) Ich
schreibe diese Worte in meiner Bretterhütte am Boden liegend, es regnet heftig
und ist so kühl, dass ich mich bis unter die Arme in meine Wolldecke gewickelt
habe. Nun bin ich froh, dass ich Papier und Bleistift mitgenommen habe, obwohl
diese Art von Zeitvertreib eigentlich wider mein Vorhaben ist. Aber bei einem
dreißigstündigen Regen, dessen Ende noch nicht abzusehen ist, allein in einem
Bretterverschlag in der Einöde zu liegen, ohne Bücher, ohne Tabak, ohne Feuer,
ohne Brot, vom Fasten geschwächt, wäre ohne dies harmlose Schreibvergnügen
gar schwer zu ertragen.“
„Nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr zuwider, als den Weg zu gehen, der
ihn zu sich selber führt“, sagt der Meister in seinem „Demian“.
Ohne Ziel und Zweck
«
Nach Zahl und Ziel ward Welt uns hingerichtet,
zerzerrt, zerspellt - - -
aus Mahl und Spiel wird ihr Gedeihn gedichtet,
tief hergestellt!
+
Nach Paradiesen zielen - macht uns die Erd zur Qual.
Das Nach-dem-Himmel-Schielen bringt uns ins Jammertal.
+
Also wohlauf! Was Ziel und was Zweck? Woher und Wohin?
Und lass Dich auch nimmer wurmen vom blöden "Warum".
+
Und bist genesen Du vom Ziel - ist Dir
der Ring gelungen - dann komm, Gesell, zum grohsen
Spiel - bist Du dann wohlgelungen - !
All alle rufen - Freund Dich - komm!
Du - bist - Uns - fromm.
+
Darum bescheidet in Einfalt der Weise sich -
will nichts erzwingen, so zwingt ihn kein Zweck,
innig lebendig, über allen Zwiespalt hinweg,
lebt er in heiliger Dreifalt drein,
im Wieder-Vonselbersein.
+
Komm mit auch Du, statt immerzu
nach Zielen auszuschauen.
Wohin hinaus? - Im Erdenhaus
blühn wonnigliche Auen!
+
Was Ziel?
Allhier - das
Lebespiel!
«
Gusto Gräser
Quellen:
3sat
Siebenbürger.de
Gusto Gräser HP
Die ersten Hippies
Veröffentlichungen: Tao. Das heilende Geheimnis. Hrsg. von Hermann Müller. Recklinghausen - Erdsternzeit. Hrsg. von Hermann Müller. Recklinghausen 2007.
Literatur: Hermann Müller: Monte Gioia. Der Monte Verità von Gusto Gräser. In: Sinnsuche und Sonnenbad. Experimente in Kunst und Leben auf dem Monte Verità. Hrsg. von Andreas Schwab und Claudia Lafranchi. Zürich 2002. - Hermann Müller: Gusto Gräser. Aus Leben und Werk. Bruchstücke einer Biographie. Knittlingen 1987. - Ulrich Linse, Hagen Schulze: Barfüssige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin 1983. - Ulrich Linse: Wanderpropheten der Zwanziger Jahre. In: Wohnsitz Nirgendwo. Vom Leben und Überleben auf der Strasse. Berlin 1982, S.191-208. - Hermann Müller: Der Dichter und sein Guru. Hermann Hesse - Gusto Gräser eine Freundschaft. Wetzlar 1978.
Ausstellung: Ein Prophet aus Siebenbürgen. Gusto Gräser und der Monte Verità von Ascona. Haus des Deutschen Ostens, München. 24. Oktober bis 19. Dezember 2008.
Film: Der Eremit vom Monte Verità. Gusto Gräser - Naturmensch und Philosoph. Dokumentation von Christoph Kühn mit Herman Müller, Jörg Rasche, Heidi Christeller-Gräser und Julius Kirchner. Erstausstrahlung: 3sat, 31. August 2006.
In Christoph Kühns Film zeichnen Freunde und Familienmitglieder den Lebensweg dieses unbeugsamen Außenseiters nach, der zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. (Film leider im www. nicht abrufbar)
2 Kommentare:
gusto gräser war mir nicht unbekannt, doch hab' ich grad wieder so manches über diesen grossen menschen dazugelernt - danke dafür!
liebe grüsse
jrene
Hallöle,
ich hoffe es geht alles wieder in Deinem Blog.
Vor einigen Tagen lief eine Doku im TV. Ein spannender Mann. Vor allem die Verbindung zu Hesse taucht nicht allzu oft in den Biographien auf.
Liebe Grüße
Ahimsayama
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