Navigation

Widmung

Dem, was andere schon sagten, kann ich nichts Neues hinzufügen; zudem bin ich kein begabter Poet. Ich gebe nicht vor, anderen von Nutzen zu sein: Um meinen eigenen Geist zu üben, habe ich dieses Werk verfaßt.

Ahimsayama

Zukunftsmusik

Keine Angst. Es wird kein Jahresrückblick. Schon gar keiner, der mein persönliches Leben betrifft. Und dennoch. Wir leben immerfort in diesem Spannungsverhältnis von Zeit und Raum, wobei die Zeit, wenn man einigen Wissenschaftlern glauben darf, unter Umständen so, wie wir sie gewöhnlich definieren, nicht existent ist. Nur punkförmiges singuläres fortschreiten von Ereignissen, die wir, unseren Ängsten, Hoffnungen und Wünschen unterworfen, in einen Kontext zu stellen versuchen, um unserer Endlichkeit und Begrenztheit einen Sinn geben zu können, und gerade darin sind wir Westler hervorragend. Den Blick auf das Ziel gerichtet überschreiten wir Gräben und Berge...
Naturnahe Völker, die im Bereich des Äquators leben, kennen weder Alter noch Jahreszeiten. Ein Leben von Moment zu Moment...
Vergangenes vorbei. Zukünftiges eine einzige Hoffnung, dennoch nicht unbeeinflußbar. Die Gegenwart, kaum erschienen, der Vergangenheit überantwortet.



Es geschieht
nichts Neues unter der Sonne

Prediger 1,9

Siehe, alles ist neu geworden

2. Korinter 1,9

Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
und neues Leben blüht aus den Ruinen.

Friedrich Schiller



Der Aufbruch
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wußte es nicht und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf, und fragte: "Wohin reitet der Herr?" "Ich weiß es nicht", sagte ich, "nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." "Du kennst also dein Ziel?", fragte er. "Ja", antwortete ich, "ich sagte es doch. Weg von hier - das ist mein Ziel."

Franz Kafka


Die Apokalypse gehört zu unserem idiologischen Handgepäck. Sie ist ein Aphrodisiakum. Sie ist ein Angsttraum. Sie ist eine Ware, wie jede andere. Sie ist, meinetwegen, eine Metapher für den Zusammenbruch des Kapitalismus, der bekanntlich seit über einhundert Jahren unmittelbar bevorsteht. Sie tritt uns in allen möglichen Gestalten und Verkleidungen entgegen, als warnender Zeigefinger und als wissenschaftliche Prognose, als kollektive Fiktion und als sektiererischer Weckruf, als Produkt der Unterhaltungsindustrie, als Aberglauben, als Trivialmythos, als Vexierbild, als Kick, als Jux, als Projektion. Sie ist allgegenwärtig, aber nicht "wirklich": eine zweite Realität, ein Bild, das wir uns machen, eine unaufhörliche Produktion unserer Phantasie, die Katastrophe im Kopf.

Sie ist all dies und noch mehr, nämlich eine der ältesten Vorstellungen des Menschengeschlechts. Über ihre Ursprünge ließen sich ganze Folianten schreiben, und selbstverständlich sind diese Folianten auch geschrieben worden. Über ihre wechselvolle Geschichte wissen wir ebenfalls allerhand, über ihr periodisches Hervor- und Zurücktreten und über den Zusammenhang dieser Schwankungen mit dem materiellen Prozeß der Geschichte. Die Idee der Apokalypse hat das utopische Denken seit seinen Anfängen begleitet, sie folgt ihm wie ein Schatten, sie läßt sich nicht von ihm ablösen: Ohne Katastrophe kein Millenium, ohne Apokalypse kein Paradies. Die Vorstellung vom Weltuntergang ist nichts anderes als eine negative Utopie.

Aber auch der Untergang ist nicht mehr das, was er einmal war. Der Film, der in unseren Köpfen und noch viel hemmungsloser in unserem Unbewußten läuft, unterscheidet sich in vieler Hinsicht von den alten Träumen. In historischen Ausprägungen war die Apokalypse eine ehrwürdige, ja heilige Vorstellung. Die Katastrophe, mit der wir umgehen, ist dagegen eine ganz und gar sekularisierte Erscheinung. Wir lesen ihre Erscheinungen von den Häuserwänden ab, an denen sie, ungelenk gesprüht, über Nacht auftauchen, oder von den Zahlenschlangen, die der Computer auswirft.

Unser siebenköpfiges Ungeheuer hört auf viele Namen:
Polizeistaat, Paranoia, Bürokratie, Terror, Wirtschaftskrise, Rüstungswahn, Umweltvernichtung; Die vier Reiter sehen aus wie Westernhelden und verkaufen Zigaretten, und die Posaunen, die den Weltuntergang ankündigen, dienen einem Werbespot als Begleitmusik. Früher sahen die Menschen in der Apokalypse die unerforschliche, rächende Hand Gottes am Werk, heute erscheint sie als methodisch kalkuliertes Produkt unserer eigenen Anstrengungen (wir werden erwachsen), und die Geister, deren Wirken wir ihr Herannahen zuschreiben, rufen wir selbst: Die "Roten", die Ölscheichs, die Terroristen, die Multis; die Gnome von Zürich und die Frankensteins der biologischen Labors;Ufos und Neutronenbomben; Dämonen aus dem Kremel oder aus dem Pentagon: eine Umwelt unvorstellbarer Verschwörungen und Maschinationen, an deren Fäden die allmächtigen Kretins der Geheimdienste ziehen.

Auch war die Apokalypse einst ein singuläres Ereignis, das plötzlich, aus heiterem Himmel, zu gewährtigen war: eine undenkbare Weltminute; nur Seher und Propheten konnten sie vorausahnen, auf deren Warnungen und Weissagungen niemand hören wollte. [...] (Heute) Apokalypse in Zeitlupe. Sie erinnert an jenen ergrauten Klassiker der Stummfilm-Avangarde, in dem ein riesiger Fabrikschlot zu sehen ist, wie er geräuschlos auf der Leinwand zerbricht und in sich zusammenstürzt, zwanzig Minuten lang, während die Zuschauer, in einer Art schläfrigen Komforts, sich zurücklehnen in ihren abgeschabten Samtsesseln und Popkorn und gebrannte Mandeln knabbern. Nach der Vorstellung betritt der Futurologe die Bühne. Er sieht aus wie eine schlechte Imitation von Dr. Strangelove, dem wahnsinnigen Wissenschaftler, nur daß er abscheulich fett ist. In aller Gemütsruhe teilt er uns mit, daß der Ozongürtel der Atmosphäre in zwanzig Jahren verschwunden sein wird, so daß wir unfehlbar von der kosmischen Strahlung geröstet werden, falls wir bis dahin noch unter den Lebenden weilen sollten. [...] Das Publikum unterdrückt ein Gähnen, obgleich das Desaster, dem Professor zufolge, unmittelbar bevorsteht. Allerdings nicht für heute nachmittag. Heute nachmittag wird alles genauso weitergehen wie bisher, ein wenig schlechter vielleicht als letzte Woche, aber unmerklich schlechter. Sollte allerdings der eine oder andere unter uns gerade ein wenig deprimiert sein, was ja nicht ausbleiben kann, so wird ihn vielleicht, ganz egal ob er im Pentagon oder im Untergrund arbeitet, oder auch Hemden bügelt oder Transformatorenbleche schweißt, der Gedanke heimsuchen, daß es eigentlich einfacher wäre, wenn wir es ein für allemmal hinter uns hätten, wenn die Katastrophe wirklich käme. Aber daran ist nicht zu denken. Die Endgültigkeit, früher eins der hauptsächlichen Attribute der Apokalypse und einer der Gründe für ihre Anziehungskraft, ist uns nicht beschieden.

Abhanden gekommen ist uns auch ein anderer traditioneller Aspekt des Weltuntergangs. Früher galt es als ausgemacht, das er eine Angelegenheit wäre, von der alle miteinander gleichzeitig und ausnahmslos betroffen sein würden; das nie eingelöste Verlangen nach Gleichheit und Gerechtigkeit fand in dieser Vorstellung eine letzte Zuflucht. Aber so, wie er sich in unseren Köpfen abmalt, ist der Untergang kein Gleichmacher mehr, im Gegenteil. Er ist von Land zu Land, von Klasse zu Klasse, von Ort zu Ort verschieden; während er die einen ereilt, betrachten die anderen ihn auf dem Fernsehschirm. Es werden Bunker gebaut, Gettos eingemauert, Festungen errichtet, Leibwächter engagiert, im großen wie im kleinen. Dem Landhaus mit Alarmanlage und elektrischer Umzäunung entsprechen, im internationalen Maßstab, ganze Länder, die sich einigeln, während andere vor die Hunde gehen. Der Alptraum vom Untergang macht der Ungleichzeitigkeit kein Ende, er radikalisiert sie nur; seine afrikanischen und indischen Versionen werden von denen, die er nicht ereilt, einschließlich der afrikanischen und indischen Regierungen, mit mit einem Achselzucken übergangen. Spätestens an diesem Punkt hat der Jux ein Ende.

Hans Magnus Enzensberger (in Klammern stehende kursive Hervorhebungen von mir)


Nun denn. Was hat das alles mit mir zu tun?! Alles und doch nichts. Wieder so ein Spannungsverhältnis von Karma und dem Sein im Hier und Jetzt. Diese Prinzipien lassen mich nicht aus. Weder die Nichtbeschäftigung, also das Wegschauen, noch das sich Vertiefen bis zur Resignation führen zur Lösung.


Aus einem Thread von Energeia:
[...] Es gibt neben dem physiologischen Bedingungen ja auch Verhaltensindikatoren, die man beobachten kann, wenn ein Mensch spirituell fortschreitet. Z.B. ist es ihm mehr und mehr möglich, anderen Menschen, die ihn früher verletzt haben, zu verzeihen bzw. von dem Schmerz loszulassen und sich auch gegenwärtig gar nicht mehr verletzen zu lassen. Ein Mensch, der noch wütend auf seine Eltern ist, der Konflikte mit Autoritäten hat, der Menschen nicht verzeihen kann, die ihn verletzten, der kann nicht erlöst sein. [...] Die Wortkette "höheres Selbst" bezeichnet nun auf dem spirituellen Weg Phänomene, die die spirituelle Entwicklung begleiten, so wie etwa die Fähigkeit zur Enthaltsamkeit, zum Loslassen, zum Verzeihen, zum Lieben, zur Aufmerksamkeit etc. diesen Weg begleitet. Das Wort bezeichnet einfach die Tatsache, dass ein Mensch auf diesem Weg zu "höheren Einsichten" fähig wird. "Höher" in dem Sinne, dass sie ihm vorher nicht einsichtig waren.
Blickt man nun zurück, dann sieht man, dass diese Einsichten einem Menschen eigentlich immer schon möglich waren, aber dass er keine Praxis verfolgte, die ihn dazu führte, sich physiologisch so zu entwickeln, dass derartige mentale Zustände psychophysisch möglich werden konnten. [...]

Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde?
- die Stunde meines Niedergangs, Untergangs: denn noch ein mal will ich zu den Menschen gehn.
Des warte ich nun: denn erst müssen mir die Zeichen kommen, daß es meine Stunde sei - nämlich der lachende Löwe mit dem Taubenschwarme.
Inzwischen red ich als einer, der Zeit hat, zu mir selber.
Niemand erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber.

Friedrich Nietzsche

Keine Kommentare: