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Dem, was andere schon sagten, kann ich nichts Neues hinzufügen; zudem bin ich kein begabter Poet. Ich gebe nicht vor, anderen von Nutzen zu sein: Um meinen eigenen Geist zu üben, habe ich dieses Werk verfaßt.

Ahimsayama

Heilung durch Spiritualität

6. Mai 2006, Neue Zürcher Zeitung










Ein Heilmittel namens «Spiritualität»?

Vom Versuch, die therapeutische Wirkung immaterieller Kräfte zu quantifizieren

Spiritualität liegt im Trend. Auch die heilende Kraft von Religion und Glauben ist nach einem ersten Boom in der medizinischen Fachwelt der USA nun auch in Europa zum Thema geworden. Tagungen zur Bedeutung von Spiritualität im Heilungsprozess werden vielerorts abgehalten. Die Messmethoden für die Wirksamkeit bleiben naturgemäss diffus.





Von Monika Renz, Musik- und Psychotherapeutin, St. Gallen*

An einer Tagung über Spiritualität und Heilen wurde unlängst erwogen, ob und wie die Kosten für spirituelle Begleitung von den Krankenkassen zu übernehmen seien. Gefragt wurde nach Anforderungskriterien für solche spirituellen Leistungen und für die anbietenden Begleitpersonen des therapeutischen Prozesses. Vor allem eines wurde in jener Diskussion klar: Selbst im Vortragssaal war man sich nicht einig darüber, was Spiritualität heisst und umfasst.

Eine andere Bezeichnung für Religion?

Auch im Spitalalltag hält der vage Begriff Einzug, etwa mit der Frage, ob eine gesonderte Anamnese mit Angaben über spirituelle Bedürfnisse zum Patientendossier gehören soll. Man erhält bisweilen den Eindruck, Spiritualität könne wie irgendein Medikament verordnet werden.

«Spirituell» kursiert heute gern als unverdächtige, da weniger belastete Bezeichnung für «religiös». Seriosität ist jedoch schon im Umgang mit dem Begriff angezeigt. Das Anliegen an sich wäre wichtig, sind doch spirituelle Erfahrungen für den Menschen von Bedeutung. Sie müssten aber in ihren Charakteristika und ihren inhaltlichen Aussagen erkannt werden.

«Es war nichts da, nur eine grosse gelbe Lichthand gesehen», kommentierte ein Mann enttäuscht, nachdem er aus der Todesnähe wieder ins Leben zurückgekehrt war. Seine Frau bestätigte: Sie habe ihrem Mann mehrmals erklärt, er befinde sich in einem gewöhnlichen Spitalzimmer, von einer Lichthand sei nichts zu sehen. Zu begreifen, dass es sich hier um eine innere Wahrnehmung aus dem Grenzbereich zum Unfassbaren handelte, liess beide erschaudern. Es folgten Tage mit deutlich weniger Schmerzen.

Begriffsgeschichtliches

Das lateinische Adjektiv «spiritualis» wurde um 200 nach Christus gebildet, um das biblische «pneumaticos» wiederzugeben und das Unfassbare zu umschreiben, das dem Menschen beim Taufgeschehen widerfuhr (vgl. Sudbrack 1999). Später wurde der Begriff für bestimmte Ausprägungen des geistlichen Lebens - etwa als ignatianische oder franziskanische Spiritualität - verwendet (Rotzetter, 2000).

Im Unterschied zum Begriff Religiosität, welcher stärker eine Anthropologie des Empfangens, also eine menschliche Haltung, anspricht, umschreibt Spiritualität etwas, was dem Menschen widerfährt, ein Offenbarungsgeschehen. In der Konkretion einer Erfahrung sind sich Religiosität und Spiritualität dennoch nahe. - In den USA kam dem Begriff «Spiritualität» bereits in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts breite Aufmerksamkeit zu. Bedeutung hatte er einerseits innerhalb der jungen religiös-charismatischen Bewegungen, anderseits im Zusammenhang mit dem neu erwachten Interesse an der Beziehung zwischen Religion und Gesundheit.

Gegenstand der Forschung

Verschiedene Strömungen - Alternativmedizin, spirituelle und esoterische Bewegungen - fanden sich auf dem gemeinsamen Feld einer holistischen Gesundheitsphilosophie und in Wortschöpfungen wie «spirituelle Energie» oder «spirituelle Heilung».

Seit Anfang der neunziger Jahre entwickelte sich aus dem neu entdeckten Interesse für Spiritualität ein eigentliches Forschungsgebiet. Betrieben wurden diese Forschungen vor allem innerhalb der Disziplinen Psychiatrie/Psychologie, Onkologie und Kardiologie. Die Theologie wiederum übernahm eher die Rolle eines späten Aufspringers auf ein dargebotenes Trittbrett.

Der Begriff Spiritualität wurde losgelöst von der jeweiligen religiösen Tradition gebraucht und fand vor allem als erbrachte Leistung (z. B. Fürbittgebet, Kirchenbesuch, Meditation) Eingang in quantitative Erhebungen und in die medizinische Argumentation. Jetzt wurden Statistiken erstellt, die Zusammenhänge aufzeigen sollten, etwa zwischen Religiosität und einer niedrigen Sterblichkeitsrate, zwischen Religiosität und (seltenerem) Aufsuchen von Arztpraxen oder anderen medizinischen Einrichtungen.

Spiritualität - ein Medikament?

Aus solchen Einsichten wurden Empfehlungen an Ärzte und Pflegende abgeleitet: Das Gespräch über das Spirituelle sei in ihre Dienste einzubeziehen und Patienten zur Nutzung ihrer spirituellen Ressourcen zu ermutigen. Federführend in dieser Kommunikationsarbeit ist Harold G. Koenig, M. D. vom Duke University Medical Center for Religion, Spirituality and Health.

Dass im Zuge einer solchen Profanierung und mitunter auch Kommerzialisierung dessen, was Spiritualität leisten kann, mehr und mehr der Eindruck entstand, diese sei ein Medikament von grosser Wirksamkeit, ist nicht weiter verwunderlich. Jedenfalls entwickelte sich das Thema «Religion und Gesundheit» seinerseits zur Religion, allerdings zu einer, die nicht mehr viel mit dem klassischen Religionsbegriff zu schaffen hat. Auf «Medscape», einer Website für Medizin, werden entsprechende Bedenken publiziert: «The ‹religion› of ‹religion and health› may be a very different one from the religions of History» (www. medscape.com/viewarticle/511714).

Illustriert wird das am Fürbitte-Gebet («intercessory prayer»), das in der Konsequenz solcher statistischen Erhebungen zu einer Intervention wie jede beliebige andere medizinische Massnahme werde.

Skepsis und grundsätzliche Einwände

Mittlerweile liegen nicht nur Studien und Statistiken über die Wirksamkeit von Spiritualität vor, sondern auch Studien über Studien. Weitgehende Einigkeit herrscht in der generellen Aussage, dass es einen Zusammenhang zwischen Glauben und Gesundheit beziehungsweise zwischen Glauben und Krankheitsbewältigung gibt. - Kritische Stimmen weisen vorerst auf die methodologischen Mängel der Studien und auf den Definitionsnotstand hin. Die erstellten Statistiken liessen sich nicht zu einander in Beziehung setzen. Erhoben werden auch grundsätzliche Einwände gegen eine Quantifizierung der Wirkung von Spiritualität. So überschrieb das Wissenschaftsmagazin «Lancet» im vergangenen Jahr einen kritischen Leitartikel zur Studie Mantra II mit der Frage «Measuring the Unmeasurable?». Lässt sich also Unmessbares überhaupt messen und wenn ja, wie?

Bei den ethischen Bedenken wird vor allem die Frage nach der Legitimität der Einmischung in höchst private Belange gestellt. Und mit Blick auf fundamentalistische Strömungen, die gerade in den USA die frühe Spiritualitätsbewegung mitprägten, wird darauf hingewiesen, dass eine zusätzliche Betonung des Religiösen sogar schädlich sein könne. Dann etwa, wenn Patienten aus weltanschaulichen Gründen eine Krankheit als Strafe Gottes empfinden.

Debatte in Theologie und Psychotherapie

Zunehmend sieht sich inzwischen auch die praktische Theologie zur Aufarbeitung ihres Spiritualitätsbegriffs herausgefordert. Hier stellen sich zahlreiche Fragen: Was ist es, was wahrhaft heilt? Was geschieht im Vorfeld solcher Erfahrungen? Ereignen diese sich vor allem bei gläubigen Menschen, bei Meditationsgewohnten, bei Menschen in Todesnähe?

Lässt sich überhaupt - sei es aus theologischer, sei es aus psychotherapeutischer Sicht - etwas aussagen über das Phänomen der spirituellen Erfahrung? Über das, was letztlich nur als Gnade oder als unfassbares, unmessbares Geheimnis begriffen werden kann? Dürfen wir heilige Texte so (miss)interpretieren, dass sich aus ihnen herauslesen lässt, Gott biete einen Tausch von Anbetung gegen Gesundheit an? (Richard T. Penson, Harvard Study Day 2004).

Erkennbar an der Wirkung

Woran lässt sich spirituelle Erfahrung erkennen? Und was ist ihr Gehalt, ihr Wesen? Fragen dieser Art lagen einem in den Jahren 2000 bis 2003 an der Abteilung für Psychoonkologie des Kantonsspitals St. Gallen durchgeführten Forschungsprojekt zugrunde (Grenzerfahrung Gott, Renz 2003). Dabei wurde zurückgegriffen auf die engere Definition des Begriffes Spiritualität: als Beziehungsgeschehen zwischen dem Menschen und einem unfassbar Andern. Es handelt sich somit um etwas Gnadenhaftes, das vom Menschen nicht herbeigeführt werden kann.

Gefragt wurde nach der Bedeutung des Spirituellen inmitten von Leid, Krankheit und Sterben. Von insgesamt 251 psychotherapeutisch begleiteten Patienten und Patientinnen kam es bei deren 135 zu Erfahrungen, für deren Erlebnisqualität nach übereinstimmender Meinung von Patient und projektverantwortlicher Therapeutin einzig das Wort spirituell angemessen war. «Das war mehr als Musik, mehr als Therapie, da war ‹Gegenwart› schlechthin.» Mit solchen Umschreibungen versuchten Patienten zu schildern, was war und sich doch letztlich nie genau verstehen oder erklären lässt.

Es ist die Wirkung einer solchen Erfahrung, die zum verlässlichen Hinweis auf die Tiefendimension des Geschehens wird: Oft sind Patienten während Tagen zutiefst ergriffen oder überglücklich. Schmerzen und Übelkeit lassen für kürzere oder längere Zeit nach. Ein zuvor beobachtetes zähes inneres Ringen ist plötzlich wie aufgelöst, überwunden. Körper- und Sinneserfahrungen sind von einer gesteigerten Intensität.

Inhaltliche Aussagen

Interessant - auch mit Blick auf den derzeitigen interreligiösen Dialog - sind Aussagen darüber, was in einer Vision, bei einer Körper- oder Nahtoderfahrung, in einem besonders eindrücklichen Traum erlebt wurde. Längst nicht nur All-Einssein, Licht oder Engelnähe sind Themen spiritueller Erfahrungen. Nebst der vor allem in der östlichen Spiritualität beschriebenen Erfahrung von Einssein werden hierzulande häufig Begegnungen mit einem äussersten Gegenüber, ja eigentliche Beziehungserfahrungen mit einem ewigen Du gemacht.

Benannt werden solche Erfahrungen etwa als personales Gemeint- oder zärtliches Geliebt- Sein, als Getragen- oder Gerufen-Sein. Besonders eindrücklich ist die Erfahrung Sterbender, gewürdigt und erkannt zu sein als die, die sie sind und geworden sind.

Für die Patienten und Patientinnen - darunter evangelische und katholische Christen, Atheisten, Muslime, Buddhisten - ist nach einer solchen Erfahrung eigentlich nur eines wichtig: dass das, was war, auch sein darf, dass es weder narzisstisch umgedeutet noch wegrationalisiert wird, sondern in seiner Unfassbarkeit ernst genommen. Gerade so entfalten spirituelle Erfahrungen ihre Wirkung über den Moment hinaus.

* Die Autorin hat in Zürich Psychopathologie, pädagogische Psychologie und Musikethnologie studiert und mit einem Doktorat beschlossen. In Freiburg i. Ü. hat sie ein Zweitstudium in Theologie absolviert. Sie leitet seit 1998 die Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen und hat verschiedene Lehraufträge inne.

Literatur: Koenig, H. G. (2002): Spirituality in patient care: Why How When, and What. Templeton foundation pres goes.

Koenig, H. G., et al. (1999): Religion, spirituality, and medicine: a rebuttal to skeptics (Editorial). International Journal of Psychiatry in Medicine 29 (2), 123-31.

Renz, M. (2003): Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Freiburg, Herder spectrum.

Renz, M. (2005): Zeugnisse Sterbender. Todesnähe als Wandlung und letzte Reifung. Paderborn, Junfermann.

Rotzetter, A. (2000): Spirituelle Lebenskultur für das dritte Jahrtausend. Freiburg, Herder.

Sloan, RP., Bagiella, E., VandeCreek, L., et al.: Should physicians prescribe religious activities? New England Journal of Medicine 2000; 342: 1913-1916.

Sudbrack, J. (1999): Gottes Geist ist konkret: Spiritualität im christlichen Kontext. Würzburg, Echter.

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