Die Welt
"Unser Leben wird von unserem Geist geformt, und wir werden, was wir denken."
Diese Zeilen sind sowohl die subtilsten als auch die praxisbezogensten im Dhammapada. Die Worte sind zu inhaltsreich, als daß sie irgendeine Übersetzung in ihrem vollen Sinn vermitteln könnte. Wörtlich lautet sie: "Der Geist ist der Vorläufer aller Dharmas; alle folgen sie dem Geist; alle sind aus Geist gemacht."
Dharmas wird hier im doppelten Sinn verwendet: Es bedeutet gleichzeitig sowohl "Ding" als auch "Gedanke". Für den Buddha ist alles ein Dharma, ein geistiges Ereignis. Wir erfahren in Wahrheit gar nicht die Welt, bemerkt er; wir erfahren Konstrukte im Geist, die aus Informationen von den Sinnen bestehen. Diese Informationen bilden zusammen schon eine Art Code. Beispielsweise sehen wir gar keine Dinge, wir deuten eine vom Gehirn empfangene Menge elektronischer Impulse als gesonderte Gegenstände. Und Natürlich erstrecken sich dies Impulse nur über einen engen Bereich unseres Empfindungsvermögens, der auf das begrenzt ist, was die Sinne registrieren können. Aber aus diesen kläglichen Daten erschafft der Geist eine ganze Welt.
Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, daß es "da draußen" viel mehr gibt, als wir wissen können. Aber davon ist beim Buddha keineswegs die Rede. Er kennt überhaupt gar kein "Da draußen" mehr. Alles an der Erfahrung ist Geist. Was wir als "Dinge" bezeichnen, sind Gegenstände im Bewußtsein: nicht daß sie imaginär wären, aber ihre charakteristischen Merkmale sind mentale Konstruktionen. Form ist eine Kategorie des Geistes.
Wenn man am Strand spazieren geht, fällt einem vielleicht auf, daß der Strand aus größerer Entfernung kompakt wirkt. Erst wenn wir auf ihn treten und ihn anfassen, können wir erkennen, daß er sich tatsächlich aus Milliarden Teilchen zusammensetzt. Das Gleiche trifft auch auf Dinge zu, die scheinbar "wirklich" kompakt sind, wie etwa ein Felsblock am Wasserrand. Physiker lösen sogar subatomare Teilchen in Energie auf und machen so Substanz eher zu einem Hilfsmittel für die Alltagskommunikation statt zu einer der Wirklichkeit angemessenen Bezeichnung. In ähnlicher Weise führt der Buddha alle Erfahrung - von Dingen und von uns selbst - auf Dharmas zurück. Tief im Bewußtsein löst sich eine dem gesunden Menschenverstand entsprechende Erfahrung, etwa ein wunderschöner Sonnenuntergang, in Skandha-Ereignisse auf wie: "Sichtkontakt mit Farbmustern, begleitet von angenehmen Empfindungen." Es gibt kein Selbst in derartigen Ereignissen und keinen wirklichen Unterschied zwischen Beobachter und Beobachtetem.
Der Buddha, denke ich, wäre wohl nicht überrascht gewesen von den Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, die die klassische Physik auf den Kopf stellen. Die von den Quantenphysikern beobachteten essentiellen Diskontinuität in der Natur folgt ganz natürlich aus der vom Buddha realisierten Erfahrung der Diskontinuität des Denkens. Gleiches gilt für die Vorstellung, daß die Zeit diskontinuierlich ist; auch sie findet wahrscheinlich einen Platz in der Physik.
Wir müssen uns hier sehr vor einem etwaigen Missverständnis hüten, denn der Buddha behauptet nicht, daß die physikalische Welt ein reines Phantasieprodukt sei. Das würde eine von ihr unterschiedene "wirkliche" Welt voraussetzen, aber diese hier ist ja die wirkliche Welt. Wir denken sie uns nicht aus, aber wir nehmen auch nicht irrigerweise eine andere Welt da draußen wahr, in der die Dinge "wirklich" kompakt sind und die Wesen getrennt. Was der Buddha uns mitteilt, ist genau parallel zu dem, was die Quantenphysiker behaupten: wenn wir das Universum eingehend untersuchen, löst es sich in Diskontinuitäten und einen sich ständig verändernden Fluß von Energiefeldern auf. Aber im Universum des Buddha ist die Dualität von Geist und Materie verschwunden; beides sind Felder im Bewußtsein.
Als Einstein über Uhren redete, die in einem starken Gravitationsfeld langsamer gehen, oder als Heisenberg behauptete, daß wir entweder die Bewegungsenergie oder die Position eines Elektrons bestimmen können, aber nicht beides, verspürten die meisten Physiker eine natürliche Neigung, dies als eine scheinbare Anomalie zu behandeln, wie die optische Täuschung. daß ein Stab sich krümmt, wenn man ihn in ein Glas Wasser stellt. Die Physiker brauchten Jahrzehnte, um zu akzeptieren, daß es kein "wirkliches" Universum, wie den wirklichen Stab, gibt, auf das man sich ohne einen Beobachter beziehen könnte. Uhren gehen wirklich langsamer und Elektronen sind wirklich unbestimmbar; genau so ist das Universum tatsächlich beschaffen. Ähnlich würde der Buddha behaupten, daß dieses Universum, von dem wir reden, tatsächlich aus Geist besteht. Es gibt keine "wirkliche" Welt-an-sich, getrennt von unserer sie erfassenden Wahrnehmung. Das macht die physikalische Wirklichkeit keinen Deut weniger physikalisch; es erinnert uns daran, daß das, was wir auf dieser Welt wahrnehmen und erleben, von der Struktur desBewußtseins geformt ist. (wird fortgesetzt)
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