Die Tiefendimension in der Meditation
Während die westliche Tradition der Psychotherapie erst Anfang des letzten Jahrhunderts begann, gehört die Meditation zu dem ältesten Kulturgut der Menschheit. Sie bildet das Herz aller Religionen und kann in Indien auf eine Geschichte von mindestens 5000 Jahre zurückblicken. Trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der modernen Psychotherapie gibt es einen wesentlichen Unterschied: Durch Meditation wird nicht versucht, eine Änderung in der Persönlichkeit oder im Verhalten hervorzurufen. Es geht vielmehr darum, das nicht-entstandene Wesen zu erkennen und zu erfahren, das man schon immer ist. Es entzieht sich jeglicher Begrifflichkeit oder Modellvorstellung. Es kann nicht durch begriffliches Denken analysiert, sondern nur in der Meditation bzw. in einem Zustand von Nicht-Denken erfahren werden. In der Psychotherapie wird im allgemeinen nicht unterschieden zwischen Selbst und Selbstbild. Eine Ausnahme bildet die Psychosynthese nach Roberto Assagioli: Durch Disidentifikation von allen Selbstbildern, Rollen und Teil-Identitäten wird das Bewusstsein entleert, um für eine Erfahrung empfänglich zu werden, die transpersonal, überbewusst und unkonditioniert ist. Meditation gipfelt in der Erfahrung dessen, was die Christen "Gott", die Hinduisten "Atman" (Selbst), die Buddhisten "Buddhanatur" oder "Dharmakaya" und die Sufis "Essenz" nennen. Diese Gipfelerfahrung ist jedoch selten das Ergebnis einer einzigen Meditation. Die Meditationslehrer/innen aller Traditionen warnen davor, anfängliche Erfahrungen von Harmonie, Glück oder Frieden mit der großen Einheitserfahrung der Mystiker gleichzusetzen. Meditative Wege sind Übungswege, die in der Regel über die ganze Lebensspanne hinweg praktiziert werden. Dabei können folgende Tiefebereiche unterschieden werden, die sich in einer empirischen Studie bei 40 Meditationslehrer/innen unterschiedlicher Traditionen mit Hilfe einer statistischen Clusteranalyse finden ließen (vgl. Piron, 2003):
1. "Hindernisse": Trägheit, Gedankenrasen, Angespanntheit, Langeweile, Dösigkeit, übermäßige Anstrengung und andere Hindernisse werden vor allem in den Anfangsstadien erfahren.
2. "Entspannung": Ruhige Atmung, Geduld und Wohlbefinden zählen zu den ersten Früchten einer kontinuierlichen Meditationspraxis.
3. "Personales Selbst": Die Stabilisierung des Geistes führt zu der Erfahrung einer inneren Mitte, die in der Psychosynthese als das wahre Ich oder personale Selbst bezeichnet wird. Es ist nicht das Ego, auch nicht der Verstand, sondern der nicht-identifizierte Beobachter aller inneren und äußeren Phänomene. Zu diesem Tiefebereich zählen Qualitäten wie Konzentration, Achtsamkeit, das Erleben einer inneren Energie bzw. eines Energiefeldes und das Erleben der eigenen Steuerungsfähigkeit bzgl. Gedanken und Aufmerksamkeit. Gleichmut und innerer Frieden markieren den Übergang zu dem nächsten Tiefebereich.
4. "Transpersonale Qualitäten": Zeit- und Körpergefühl lösen sich auf. Die Grenzen der eigenen Person werden durchlässig. Essenzielle Qualitäten wie Hingabe, Liebe, Verbundenheit, bedingungsloses Angenommensein, Dankbarkeit, Demut und Gnade gehen Hand in Hand mit einer ansteigenden Wachheit und Klarheit des Bewusstseins. Die Früchte der Meditation werden gekostet, ohne dass sie als Ergebnis eigener Anstrengung gewertet werden. In der mystischen Literatur werden sie oft als Geschenke des Himmels bezeichnet. Dieser Tiefebereich gipfelt in der Erfahrung grenzenloser Freude, die sich mit keinem irdischen Glück vergleichen lässt.
5. "Transpersonales Selbst": Alle kognitiven Vorgänge wie Gedanken, Konzepte, Bewertungen und Unterscheidungen kommen vollständig zur Ruhe. Das Bewusstseinsfeld wird leer und grenzenlos. Subjekt und Objekt existieren nicht mehr. Nichts wird wahrgenommen, niemand erlebt etwas. Jegliche Dualität von Gegensätzen, wie auch jene zwischen innen und außen, wird überwunden. Allumfassendes Einssein ist hier kein Gefühl oder Konzept, sondern wird hier als absolute Wirklichkeit erfahren. Die Leerheit aller personalen, dinglichen und begrifflichen Konstruktionen wird zu einer dauerhaften Erkenntnis.
In allen spirituellen Traditionen lassen sich diese Tiefebereiche finden. Die Tiefedimension, die sich durch Meditation entfaltet, ist also eine völlig andere als die Tiefendimension in der Psychoanalyse. Sie weist nicht in die Vergangenheit bzw. in das (subpersonale) Unterbewusste, sondern in die zeitlose Gegenwart und in das (transpersonale) Überbewusste.
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