Navigation

Widmung

Dem, was andere schon sagten, kann ich nichts Neues hinzufügen; zudem bin ich kein begabter Poet. Ich gebe nicht vor, anderen von Nutzen zu sein: Um meinen eigenen Geist zu üben, habe ich dieses Werk verfaßt.

Ahimsayama

Erklärung zum Weltethos

1
Erklärung zum Weltethos
Parlament der Weltreligionen
4. September 1993
Chicago, U.S.A.
2
Einführung
Der als »Einführung« bezeichnete Text wurde auf der Grundlage der in Tübingen
verfaßten, eigentlichen Erklärung (im folgenden mit »Prinzipien« überschrieben)
von einem Redaktionskomitee des »Council« des Parlaments der Weltreligionen in
Chicago erstellt. Er wollte – zu publizistischen Zwecken – eine knappe Zusammenfassung
der Erklärung bieten.
Parlament der Weltreligionen
für ein Ethos bereits existiert. Dieses Ethos
bietet die Möglichkeit zu einer besseren individuellen
und globalen Ordnung und
führt die Menschen weg von Verzweiflung
und die Gesellschaften weg vom Chaos.
Wir sind Frauen und Männer, welche
sich zu den Geboten und Praktiken der
Religionen der Welt bekennen:
Wir bekräftigen, daß sich in den Lehren
der Religionen ein gemeinsamer Bestand
von Kernwerten findet und daß diese die
Grundlage für ein Weltethos bilden.
Wir bekräftigen, daß diese Wahrheit
bereits bekannt ist, aber noch mit Herz
und Tat gelebt werden muß.
Wir bekräftigen, daß es eine unwiderrufbare,
unbedingte Norm für alle Bereiche
des Lebens gibt, für Familien und Gemeinden,
für Rassen, Nationen und Religionen.
Es gibt bereits uralte Richtlinien für
menschliches Verhalten, die in den Lehren
der Religionen der Welt gefunden werden
können und welche die Bedingung für eine
dauerhafte Weltordnung sind.
Wir erklären:
Wir sind alle voneinander abhängig.
Jeder von uns hängt vom Wohlergehen des
Ganzen ab. Deshalb haben wir Achtung
Die Welt liegt in Agonie. Diese Agonie ist
so durchdringend und bedrängend, daß
wir uns herausgefordert fühlen, ihre Erscheinungsformen
zu benennen, so daß
die Tiefe unserer Besorgnis deutlich werden
mag.
Der Friede entzieht sich uns – der Planet
wird zerstört – Nachbarn leben in
Angst – Frauen und Männer sind entfremdet
voneinander – Kinder sterben!
Das ist abscheulich!
Wir verurteilen den Mißbrauch der Ökosysteme
unserer Erde.
Wir verurteilen die Armut, die Lebenschancen
erstickt; den Hunger, der den
menschlichen Körper schwächt; die wirtschaftlichen
Ungleichheiten, die so viele
Familien mit Ruin bedrohen.
Wir verurteilen die soziale Unordnung
der Nationen; die Mißachtung der Gerechtigkeit,
welche Bürger an den Rand drängt;
die Anarchie, welche in unseren Gemeinden
Platz greift; und den sinnlosen Tod
von Kindern durch Gewalt. Insbesondere
verurteilen wir Aggression und Haß im
Namen der Religion.
Diese Agonie muß nicht sein.
Sie muß nicht sein, weil die Grundlage
3
vor der Gemeinschaft der Lebewesen, der
Menschen, Tiere und Pflanzen, und haben
Sorge für die Erhaltung der Erde, der Luft,
des Wassers und des Bodens.
Wir tragen die individuelle Verantwortung
für alles, was wir tun. All unsere Entscheidungen,
Handlungen und Unterlassungen
haben Konsequenzen.
Wir müssen andere behandeln, wie wir
von anderen behandelt werden wollen.
Wir verpflichten uns, Leben und Würde,
Individualität und Verschiedenheit zu achten,
so daß jede Person menschlich behandelt
wird – und zwar ohne Ausnahme. Wir
müssen Geduld und Akzeptanz üben. Wir
müssen fähig sein zu vergeben, indem wir
von der Vergangenheit lernen, aber es niemals
zulassen, daß wir selber Gefangene
der Erinnerungen des Hasses bleiben. Indem
wir unsere Herzen einander öffnen,
müssen wir unsere engstirnigen Streitigkeiten
um der Sache der Weltgemeinschaft
willen begraben und so eine Kultur der Solidarität
und gegenseitigen Verbundenheit
praktizieren.
Wir betrachten die Menschheit als unsere
Familie. Wir müssen danach streben,
freundlich und großzügig zu sein. Wir dürfen
nicht allein für uns selber leben, müssen
vielmehr auch anderen dienen und
niemals die Kinder, die Alten, die Armen,
die Leidenden, die Behinderten, die
Flüchtlinge und die Einsamen vergessen.
Niemand soll jemals als Bürger zweiter
Klasse betrachtet oder behandelt oder, in
welcher Weise auch immer, ausgebeutet
werden. Es sollte eine gleichberechtigte
Partnerschaft zwischen Mann und Frau geben.
Wir dürfen keinerlei sexuelle Unmoral
begehen. Wir müssen alle Formen der
Herrschaft oder des Mißbrauchs hinter uns
lassen.
Wir verpflichten uns auf eine Kultur der
Gewaltlosigkeit, des Respekts, der Gerechtigkeit
und des Friedens. Wir werden keine
anderen Menschen unterdrücken, schädigen,
foltern, gar töten und auf Gewalt als
Mittel zum Austrag von Differenzen verzichten.
Wir müssen nach einer gerechten sozialen
und ökonomischen Ordnung streben,
in der jeder die gleiche Chance erhält, seine
vollen Möglichkeiten als Mensch auszuschöpfen.
Wir müssen in Wahrhaftigkeit
sprechen und handeln sowie mit Mitgefühl,
indem wir mit allen in fairer Weise
umgehen und Vorurteile und Haß vermeiden.
Wir dürfen nicht stehlen. Wir müssen
vielmehr die Herrschaft der Sucht nach
Macht, Prestige, Geld und Konsum überwinden,
um eine gerechte und friedvolle
Welt zu schaffen.
Die Erde kann nicht zum Besseren verändert
werden, wenn sich nicht das Bewußtsein
der Einzelnen zuerst ändert. Wir
versprechen, unsere Wahrnehmungsfähigkeit
zu erweitern, indem wir unseren Geist
disziplinieren durch Meditation, Gebet
oder positives Denken. Ohne Risiko und
ohne Opferbereitschaft kann es keine
grundlegende Veränderung in unserer
Situation geben. Deshalb verpflichten wir
uns auf dieses Weltethos, auf Verständnis
füreinander und auf sozialverträgliche,
friedensfördernde und naturfreundliche
Lebensformen.
Wir laden alle Menschen, ob religiös
oder nicht, dazu ein, dasselbe zu tun.
Erklärung zum Weltethos
4
Unsere Welt geht durch eine fundamentale
Krise: eine Krise der Weltwirtschaft, der
Weltökologie, der Weltpolitik. Überall beklagt
man die Abwesenheit einer großen
Vision, den erschreckenden Stau ungelöster
Probleme, die politische Lähmung, nur
mittelmäßige politische Führung ohne viel
Einsicht und Voraussicht und allgemein zu
wenig Sinn für das Gemeinwohl. Zu viele
alte Antworten auf neue Herausforderungen.
Hunderte Millionen von Menschen auf
unserem Planeten leiden zunehmend unter
Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger und Zerstörung
der Familien. Die Hoffnung auf
dauerhaften Frieden unter den Völkern
schwindet wieder. Spannungen zwischen
den Geschlechtern und Generationen haben
ein beängstigendes Ausmaß erreicht.
Kinder sterben, töten und werden getötet.
Immer mehr Staaten werden durch Korruptionsaffären
in Politik und Wirtschaft
erschüttert. Das friedliche Zusammenleben
in unseren Städten wird immer schwieriger
durch soziale, rassische und ethnische Konflikte,
durch Drogenmißbrauch, organisiertes
Verbrechen, ja Anarchie. Selbst Nachbarn
leben oft in Angst. Unser Planet wird
nach wie vor rücksichtslos ausgeplündert.
Ein Zusammenbruch der Ökosysteme
droht.
Immer wieder neu beobachten wir, wie
an nicht wenigen Orten dieser Welt Führer
und Anhänger von Religionen Aggression,
Fanatismus, Haß und Fremdenfeindlichkeit
schüren, ja sogar gewaltsame und blutige
Auseinandersetzungen inspirieren und legitimieren.
Religion wird oft für rein machtpolitische
Zwecke bis hin zum Krieg mißbraucht.
Das erfüllt uns mit Abscheu.
Wir verurteilen all diese Entwicklungen
und erklären, daß dies nicht sein muß. Es
existiert bereits ein Ethos, das diesen verhängnisvollen
globalen Entwicklungen entgegenzusteuern
vermag. Dieses Ethos bietet
zwar keine direkten Lösungen für all die
immensen Weltprobleme, wohl aber die
moralische Grundlage für eine bessere individuelle
und globale Ordnung: eine Vision,
welche Frauen und Männer von der Verzweiflung
und der Gewaltbereitschaft und
die Gesellschaften weg vom Chaos zu führen
vermag.
Wir sind Männer und Frauen, welche
sich zu den Geboten und Praktiken der
Religionen der Welt bekennen. Wir bekräftigen,
daß es bereits einen Konsens unter
den Religionen gibt, der die Grundlage für
ein Weltethos bilden kann: einen minimalen
Grundkonsens bezüglich verbindender
Werte, unverrückbarer Maßstäbe und moralischer
Grundhaltungen.
Parlament der Weltreligionen
DIE PRINZIPIEN EINES WELTETHOS
5
der Erschütterung von Kommunismus und
Kolonialismus ist die Menschheit in eine
neue Phase ihrer Geschichte eingetreten.
Die Menschheit besäße heute genügend
ökonomische, kulturelle und geistige Ressourcen,
um eine bessere Weltordnung
heraufzuführen. Doch alte und neue ethnische,
nationale, soziale, wirtschaftliche
und religiöse Spannungen bedrohen den
friedlichen Aufbau einer besseren Welt.
Unsere Zeit erlebte zwar größere wissenschaftliche
und technische Fortschritte
denn je. Und doch stehen wir vor der Tatsache,
daß weltweit Armut, Hunger, Kindersterben,
Arbeitslosigkeit, Verelendung
und Naturzerstörung nicht geringer geworden
sind, ja zugenommen haben. Vielen
Völkern droht der wirtschaftliche Ruin,
die soziale Demontage, die politische Marginalisierung,
die ökologische Katastrophe,
der nationale Zusammenbruch.
In einer solch dramatischen Weltlage
braucht die Menschheit nicht nur politische
Programme und Aktionen. Sie bedarf einer
Vision des friedlichen Zusammenlebens
der Völker, der ethnischen und ethischen
Gruppierungen und der Religionen in gemeinsamer
Verantwortung für unseren Planeten
Erde. Eine Vision beruht auf Hoffnungen,
auf Zielen, Idealen, Maßstäben.
Diese aber sind vielen Menschen überall
auf der Welt abhanden gekommen. Und
doch sind wir davon überzeugt: Gerade die
Religionen tragen trotz ihres Mißbrauchs
und häufigen historischen Versagens die
Verantwortung dafür, daß solche Hoffnun-
Wir, Männer und Frauen aus verschiedenen
Religionen und Regionen dieser Erde, wenden
uns deshalb an alle Menschen, religiöse
und nichtreligiöse. Wir wollen unserer
gemeinsamen Überzeugung Ausdruck verleihen:
• Wir alle haben eine Verantwortung für
eine bessere Weltordnung.
• Unser Einsatz für die Menschenrechte,
für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und die
Bewahrung der Erde ist unbedingt geboten.
• Unsere sehr verschiedenen religiösen
und kulturellen Traditionen dürfen uns
nicht hindern, uns gemeinsam aktiv einzusetzen
gegen alle Formen der Unmenschlichkeit
und für mehr Menschlichkeit.
• Die in dieser Erklärung ausgesprochenen
Prinzipien können von allen Menschen mit
ethischen Überzeugungen, religiös begründet
oder nicht, mitgetragen werden.
• Wir aber als religiöse und spirituell orientierte
Menschen, die ihr Leben auf eine
Letzte Wirklichkeit gründen und aus ihr in
Vertrauen, in Gebet oder Meditation, in
Wort oder Schweigen spirituelle Kraft und
Hoffnung schöpfen, haben eine ganz besondere
Verpflichtung für das Wohl der gesamten
Menschheit und die Sorge um den Planeten
Erde. Wir halten uns nicht für besser
als andere Menschen, aber wir vertrauen
darauf, daß uns die uralte Weisheit unserer
Religionen Wege auch für die Zukunft zu
weisen vermag.
Nach zwei Weltkriegen und dem Ende
des Kalten Krieges, nach dem Zusammenbruch
von Faschismus und Nazismus und
Erklärung zum Weltethos
I. Keine neue Weltordnung ohne ein Weltethos
6
nung nicht geschaffen oder gar erzwungen
werden kann;
• daß die Verwirklichung von Frieden,
Gerechtigkeit und Bewahrung der Erde
abhängt von der Einsicht und Bereitschaft
der Menschen, dem Recht Geltung zu verschaffen;
• daß der Einsatz für Recht und Freiheit
ein Bewußtsein für Verantwortung und
Pflichten voraussetzt und deshalb Kopf und
Herz der Menschen angesprochen werden
müssen;
• daß das Recht ohne Sittlichkeit auf Dauer
keinen Bestand hat und daß es deshalb
keine neue Weltordnung geben wird ohne
ein Weltethos.
Mit Weltethos meinen wir keine neue
Weltideologie, auch keine einheitliche
Weltreligion jenseits aller bestehenden Religionen,
erst recht nicht die Herrschaft
einer Religion über alle anderen. Mit Weltethos
meinen wir einen Grundkonsens bezüglich
bestehender verbindender Werte,
unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher
Grundhaltungen. Ohne einen Grundkonsens
im Ethos droht jeder Gemeinschaft
früher oder später das Chaos oder eine Diktatur,
und einzelne Menschen werden verzweifeln.
gen, Ziele, Ideale und Maßstäbe wachgehalten,
begründet und gelebt werden können.
Das gilt insbesondere für moderne
Staatswesen: Garantien für Gewissens- und
Religionsfreiheit sind notwendig, aber sie
ersetzen nicht verbindende Werte, Überzeugungen
und Normen, die für alle Menschen
gelten, gleich welcher sozialen Herkunft,
welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe,
Sprache oder Religion.
Wir sind überzeugt von der fundamentalen
Einheit der menschlichen Familie auf
unserem Planeten Erde. Wir rufen deshalb
die Allgemeine Menschenrechtserklärung
der Vereinten Nationen von 1948 in Erinnerung.
Was sie auf der Ebene des Rechts
feierlich proklamierte, das wollen wir hier
vom Ethos her bestätigen und vertiefen: die
volle Realisierung der Unverfügbarkeit der
menschlichen Person, der unveräußerlichen
Freiheit, der prinzipiellen Gleichheit
aller Menschen und der notwendigen Solidarität
und gegenseitigen Abhängigkeit aller
Menschen voneinander.
Aufgrund von persönlichen Lebenserfahrungen
und der notvollen Geschichte unseres
Planeten haben wir gelernt,
• daß mit Gesetzen, Verordnungen und
Konventionen allein eine bessere Weltord-
Parlament der Weltreligionen
das auszusprechen, was Grundelemente
eines gemeinsamen Ethos für die Menschheit
sein sollten – für die Einzelnen ebenso
wie für die Gemeinschaften und Organisationen,
für die Staaten ebenso wie für die
II. Grundforderung:
Jeder Mensch muß menschlich behandelt werden
Wir sind allesamt fehlbare, unvollkommene
Menschen mit Grenzen und Mängeln. Wir
wissen um die Wirklichkeit des Bösen. Gerade
deshalb aber fühlen wir uns um des
Wohles der Menschheit willen verpflichtet,
7
Religionen selbst. Denn wir vertrauen darauf:
Unsere oft schon jahrtausendealten religiösen
und ethischen Traditionen enthalten
genügend Elemente eines Ethos, die für
alle Menschen guten Willens, religiöse und
nicht religiöse, einsichtig und lebbar sind.
Dabei ist uns bewußt: Unsere verschiedenen
religiösen und ethischen Traditionen
begründen in oft sehr verschiedener Weise,
was dem Menschen nützt oder schadet,
was recht oder was unrecht, was gut oder
was böse ist. Die tiefgreifenden Unterschiede
zwischen den einzelnen Religionen wollen
wir nicht verwischen oder ignorieren.
Aber sie sollen uns nicht hindern, öffentlich
zu proklamieren, was uns bereits jetzt gemeinsam
ist und wozu wir uns aufgrund
unserer je eigenen religiösen oder ethischen
Grundlagen schon jetzt gemeinsam verpflichtet
fühlen.
Uns ist bewußt: Religionen können die
ökologischen, wirtschaftlichen, politischen
und sozialen Probleme dieser Erde nicht
lösen. Wohl aber können sie das erreichen,
was allein mit ökonomischen Plänen, politischen
Programmen oder juristischen Regelungen
offensichtlich nicht erreichbar ist:
die innere Einstellung, die ganze Mentalität,
eben das »Herz« des Menschen zu verändern
und ihn zu einer »Umkehr« von
einem falschen Weg zu einer neuen Lebenseinstellung
zu bewegen. Die Menschheit
bedarf der sozialen und ökologischen Reformen,
gewiß, aber nicht weniger bedarf sie
der spirituellen Erneuerung. Wir als religiös
oder spirituell orientierte Menschen wollen
uns besonders dazu verpflichten – im Bewußtsein,
daß es gerade die spirituellen
Kräfte der Religionen sein können, die
Menschen für ihr Leben ein Grundvertrauen,
einen Sinnhorizont, letzte Maßstäbe
und eine geistige Heimat vermitteln.
Dies freilich können Religionen nur dann
glaubwürdig tun, wenn sie selbst jene Konflikte
beseitigen, deren Quelle sie selber
sind, wenn sie wechselseitig Überheblichkeit,
Mißtrauen, Vorurteile, ja Feindbilder
abbauen und den Traditionen, Heiligtümern,
Festen und Riten der jeweils Andersgläubigen
Respekt entgegenbringen.
Wir alle wissen: Nach wie vor werden
überall auf der Welt Menschen unmenschlich
behandelt. Sie werden ihrer Lebenschancen
und ihrer Freiheit beraubt, ihre
Menschenrechte werden mit Füßen getreten,
ihre menschliche Würde wird mißachtet.
Aber Macht ist nicht gleich Recht! Angesichts
aller Unmenschlichkeit fordern
unsere religiösen und ethischen Überzeugungen:
Jeder Mensch muß menschlich
behandelt werden!
Das heißt: Jeder Mensch – ohne Unterschied
von Alter, Geschlecht, Rasse, Hautfarbe,
körperlicher oder geistiger Fähigkeit,
Sprache, Religion, politischer Anschauung,
nationaler oder sozialer Herkunft – besitzt
eine unveräußerliche und unantastbare
Würde. Alle, der Einzelne wie der Staat,
sind deshalb verpflichtet, diese Würde zu
achten und ihnen wirksamen Schutz zu garantieren.
Auch in Wirtschaft, Politik und
Medien, in Forschungsinstituten und Industrieunternehmungen
soll der Mensch
immer Rechtssubjekt und Ziel sein, nie bloßes
Mittel, nie Objekt der Kommerzialisierung
und der Industrialisierung. Niemand
steht »jenseits von Gut und Böse«: kein
Mensch und keine soziale Schicht, keine
Erklärung zum Weltethos
8
einflußreiche Interessengruppe und kein
Machtkartell, kein Polizeiapparat, keine Armee
und auch kein Staat. Im Gegenteil: Als
ein mit Vernunft und Gewissen ausgestattetes
Wesen ist jeder Mensch dazu verpflichtet,
sich wahrhaft menschlich und nicht unmenschlich
zu verhalten, Gutes zu tun und
Böses zu lassen!
Was dies konkret heißt, will unsere Erklärung
verdeutlichen. Wir wollen im Blick
auf eine neue Weltordnung unverrückbare,
unbedingte ethische Normen in Erinnerung
rufen. Sie sollen für den Menschen nicht
Fesseln und Ketten sein, sondern Hilfen
und Stützen, um Lebensrichtung und Lebenswerte,
Lebenshaltungen und Lebenssinn
immer wieder neu zu finden und zu
verwirklichen.
Es gibt ein Prinzip, die Goldene Regel,
die seit Jahrtausenden in vielen religiösen
und ethischen Traditionen der Menschheit
zu finden ist und sich bewährt hat: Was du
nicht willst, das man dir tut, das füg auch
keinem anderen zu. Oder positiv: Was du
willst, das man dir tut, das tue auch den
anderen! Dies sollte die unverrückbare, unbedingte
Norm für alle Lebensbereiche
sein, für Familie und Gemeinschaften, für
Rassen, Nationen und Religionen.
Egoismen jeder Art – jede Selbstsucht,
sie sei individuell oder kollektiv, sie trete
auf in Form von Klassendenken, Rassismus,
Nationalismus oder Sexismus – sind verwerflich.
Wir verurteilen sie, weil sie den
Menschen daran hindern, wahrhaft
Mensch zu sein. Selbstbestimmung und
Selbstverwirklichung sind durchaus legitim
– solange sie nicht von der Selbstverantwortung
und Weltverantwortung des Menschen,
von der Verantwortung für die
Mitmenschen und den Planeten Erde losgelöst
sind.
Dieses Prinzip schließt ganz konkrete
Maßstäbe ein, an die wir Menschen uns
halten sollen. Aus ihm ergeben sich vier
umfassende uralte Richtlinien, die sich in
den meisten Religionen dieser Welt finden.
Parlament der Weltreligionen
III. Vier unverrückbare Weisungen
1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit
und der Ehrfurcht vor allem Leben
Ungezählte Menschen bemühen sich in
allen Regionen und Religionen um ein Leben,
das nicht von Egoismus bestimmt ist,
sondern vom Einsatz für die Mitmenschen
und die Mitwelt. Und doch gibt es in der
Welt von heute unendlich viel Haß, Neid,
Eifersucht und Gewalt: nicht nur zwischen
den einzelnen Menschen, sondern auch
zwischen sozialen und ethnischen Gruppen,
zwischen Klassen und Rassen, Nationen
und Religionen. Gewaltanwendung,
der Drogenhandel und das organisierte Verbrechen,
ausgestattet oft mit neuesten technischen
Möglichkeiten, haben globale Ausmaße
erreicht. Vielerorts wird noch mit
Terror »von oben« regiert; Diktatoren ver9
C. Deshalb sollten schon junge Menschen
in Familie und Schule lernen, daß
Gewalt kein Mittel der Auseinandersetzung
mit anderen sein darf. Nur so kann
eine Kultur der Gewaltlosigkeit geschaffen
werden.
D. Die menschliche Person ist unendlich
kostbar und unbedingt zu schützen.
Aber auch das Leben der Tiere und Pflanzen,
die mit uns diesen Planeten bewohnen,
verdient Schutz, Schonung und Pflege.
Hemmungslose Ausbeutung der natürlichen
Lebensgrundlagen, rücksichtslose Zerstörung
der Biosphäre, Militarisierung des
Kosmos sind ein Frevel. Als Menschen
haben wir – gerade auch im Blick auf künftige
Generationen – eine besondere Verantwortung
für den Planeten Erde und den
Kosmos, für Luft, Wasser und Boden. Wir
alle sind in diesem Kosmos miteinander
verflochten und voneinander abhängig.
Jeder von uns hängt ab vom Wohl des
Ganzen. Deshalb gilt: Nicht die Herrschaft
des Menschen über Natur und Kosmos ist
zu propagieren, sondern die Gemeinschaft
mit Natur und Kosmos zu kultivieren.
E. Wahrhaft Mensch sein heißt im Geist
unserer großen religiösen und ethischen
Traditionen, schonungsvoll und hilfsbereit
zu sein, und zwar im privaten wie im öffentlichen
Leben. Niemals sollten wir rücksichtslos
und brutal sein. Jedes Volk soll
dem anderen, jede Rasse soll der anderen,
jede Religion soll der anderen Toleranz, Respekt,
gar Hochschätzung entgegenbringen.
Minderheiten – sie seien rassischer, ethnischer
oder religiöser Art – bedürfen unseres
Schutzes und unserer Förderung.
gewaltigen ihre eigenen Völker, und institutionelle
Gewalt ist weit verbreitet. Selbst in
manchen Ländern, wo es Gesetze zum
Schutz individueller Freiheiten gibt, werden
Gefangene gefoltert, Menschen verstümmelt,
Geiseln getötet.
A. Aus den großen alten religiösen und
ethischen Traditionen der Menschheit aber
vernehmen wir die Weisung: Du sollst
nicht töten! Oder positiv: Hab Ehrfurcht
vor dem Leben! Besinnen wir uns also neu
auf die Konsequenzen dieser uralten Weisung:
Jeder Mensch hat das Recht auf
Leben, körperliche Unversehrtheit und freie
Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er
nicht die Rechte anderer verletzt. Kein
Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen
physisch oder psychisch zu quälen,
zu verletzen, gar zu töten. Und kein Volk,
kein Staat, keine Rasse, keine Religion hat
das Recht, eine andersartige oder andersgläubige
Minderheit zu diskriminieren, zu
»säubern«, zu exilieren, gar zu liquidieren.
B. Gewiß, wo es Menschen gibt, wird
es Konflikte geben. Solche Konflikte aber
sollten grundsätzlich ohne Gewalt im Rahmen
einer Rechtsordnung gelöst werden.
Das gilt für den Einzelnen wie für die Staaten.
Gerade die politischen Machthaber
sind aufgefordert, sich an die Rechtsordnung
zu halten und sich für möglichst gewaltlose,
friedliche Lösungen einzusetzen.
Sie sollten sich engagieren für eine internationale
Friedensordnung, die ihrerseits des
Schutzes und der Verteidigung gegen Gewalttäter
bedarf. Aufrüstung ist ein Irrweg,
Abrüstung ein Gebot der Stunde. Niemand
täusche sich: Es gibt kein Überleben der
Menschheit ohne Weltfrieden!
10
2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität
und eine gerechte Wirtschaftsordnung
Ungezählte Menschen bemühen sich in
allen Regionen und Religionen um Solidarität
füreinander und um ein Leben in Arbeit
und treuer Berufserfüllung. Und doch gibt
es in der Welt von heute unendlich viel
Hunger, Armut und Not. Schuld daran trägt
nicht bloß der Einzelne. Schuld daran sind
oft auch ungerechte gesellschaftliche Strukturen:
Millionen von Menschen sind ohne
Arbeit, Millionen werden durch schlecht
bezahlte Arbeit ausgebeutet, an den Rand
der Gesellschaft gedrängt und um ihre Lebenschancen
gebracht. Ungeheuer sind in
vielen Ländern die Unterschiede zwischen
Armen und Reichen, zwischen Mächtigen
und Ohnmächtigen. In einer Welt, in der
sowohl ein ungezügelter Kapitalismus als
auch ein totalitärer Staatssozialismus viele
ethische und spirituelle Werte ausgehöhlt
und zerstört hat, konnten sich Profitgier ohne
Grenzen und Raffgier ohne Hemmungen
ausbreiten, aber auch ein materialistisches
Anspruchsdenken, welches ständig mehr
vom Staat fordert, ohne sich selber zu mehr
zu verpflichten. Nicht nur in den Entwicklungsländern,
auch in den Industrieländern
hat sich die Korruption zu einem Krebsübel
der Gesellschaft entwickelt.
A. Aus den großen alten religiösen und
ethischen Traditionen der Menschheit aber
vernehmen wir die Weisung: Du sollst
nicht stehlen! Oder positiv: Handle gerecht
und fair! Besinnen wir uns also wieder neu
auf die Konsequenzen dieser uralten Weisung:
Kein Mensch hat das Recht, einen anderen
Menschen – in welcher Form auch
immer – zu bestehlen oder sich an dessen
Eigentum oder am Gemeinschaftseigentum
zu vergreifen. Umgekehrt aber hat auch
kein Mensch das Recht, sein Eigentum
ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der
Gesellschaft und der Erde zu gebrauchen.
B. Wo äußerste Armut herrscht, da machen
sich Hilflosigkeit und Verzweiflung
breit, da wird um des Überlebens willen
auch immer wieder gestohlen werden. Wo
Macht und Reichtum rücksichtslos angehäuft
werden, da werden bei den Benachteiligten
und Marginalisierten unvermeidlich
Gefühle des Neides, des Ressentiments,
ja des tödlichen Hasses und der Rebellion
geweckt. Dies aber führt zu einem Teufelskreis
von Gewalt und Gegengewalt. Niemand
täusche sich: Es gibt keinen Weltfrieden
ohne Weltgerechtigkeit!
C. Deshalb sollten schon junge Menschen
in Familie und Schule lernen, daß
Eigentum, es sei noch so wenig, verpflichtet.
Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl
der Allgemeinheit dienen. Nur so kann
eine gerechte Wirtschaftsordnung aufgebaut
werden.
D. Doch wenn sich die Lage der ärmsten
Milliarde Menschen auf diesem Planeten,
darunter besonders die der Frauen und
Kinder, entscheidend verändern soll, so
müssen die Strukturen der Weltwirtschaft
gerechter gestaltet werden. Individuelle
Wohltätigkeit und einzelne Hilfsprojekte, so
unverzichtbar sie sind, reichen nicht aus.
Es braucht die Partizipation aller Staaten
und die Autorität der internationalen Orga-
Parlament der Weltreligionen
11
nisationen, um zu einem gerechten Ausgleich
zu kommen.
Die Schuldenkrise und die Armut der
sich auflösenden Zweiten und erst recht der
Dritten Welt müssen einer für alle Seiten
tragbaren Lösung entgegengeführt werden.
Gewiß: Interessenkonflikte sind auch künftig
unvermeidlich. In den entwickelten Ländern
ist jedenfalls zu unterscheiden zwischen
einem notwendigen und einem hemmungslosen
Konsum, zwischen einem
sozialen und einem unsozialen Gebrauch
des Eigentums, zwischen einer gerechtfertigten
und einer ungerechtfertigten Nutzung
der natürlichen Ressourcen, zwischen
einer rein kapitalistischen und einer sozial
wie ökologisch orientierten Marktwirtschaft.
Auch die Entwicklungsländer bedürfen
der nationalen Gewissenserforschung.
Überall gilt: Wo die Herrschenden die
Beherrschten, die Institutionen die Personen,
die Macht das Recht erdrücken, ist
Widerstand – wo immer möglich gewaltlos
– angebracht.
E. Wahrhaft menschlich sein heißt im
Geist unserer großen religiösen und ethischen
Traditionen das Folgende:
• Statt die wirtschaftliche und politische
Macht in rücksichtslosem Kampf zur Herrschaft
zu mißbrauchen, ist sie zum Dienst
an den Menschen zu gebrauchen. Wir
müssen einen Geist des Mitleids mit den
Leidenden entwickeln und besondere Sorge
tragen für die Armen, Behinderten, Alten,
Flüchtlinge, Einsamen.
• Statt eines puren Machtdenkens und einer
hemmungslosen Machtpolitik soll im
unvermeidlichen Wettbewerb der gegenseitige
Respekt, der vernünftige Interessenausgleich,
der Wille zur Vermittlung und zur
Rücksichtnahme herrschen.
• Statt einer unstillbaren Gier nach Geld,
Prestige und Konsum ist wieder neu der
Sinn für Maß und Bescheidenheit zu finden!
Denn der Mensch der Gier verliert seine
»Seele«, seine Freiheit, seine Gelassenheit,
seinen inneren Frieden und somit das,
was ihn zum Menschen macht.
Ungezählte Menschen in allen Regionen
und Religionen bemühen sich auch in unserer
Zeit um ein Leben in Ehrlichkeit und
Wahrhaftigkeit. Und doch gibt es in der
Welt von heute unendlich viel Lug und
Trug, Schwindel und Heuchelei, Ideologie
und Demagogie:
• Politiker und Geschäftsleute, welche die
Lüge als Mittel der Politik und des Erfolges
benützen;
• Massenmedien, die statt wahrhaftiger
Berichterstattung ideologische Propaganda,
die statt Information Desinformation verbreiten,
die statt der Wahrheitstreue ein
zynisches Verkaufsinteresse verfolgen;
• Wissenschaftler und Forscher, die sich
moralisch fragwürdigen ideologischen oder
politischen Programmen oder auch wirtschaftlichen
Interessengruppen ausliefern
sowie Forschungen rechtfertigen, welche
3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz
und ein Leben in Wahrhaftigkeit
Erklärung zum Weltethos
12
die sittlichen Grundwerte verletzen;
• Repräsentanten von Religionen, die Menschen
anderer Religionen als minderwertig
abqualifizieren und die Fanatismus und Intoleranz
statt Respekt, Verständigung und
Toleranz verkünden.
A. Aus den großen alten religiösen und
ethischen Traditionen der Menschheit aber
vernehmen wir die Weisung: Du sollst
nicht lügen! Oder positiv: Rede und handle
wahrhaftig! Besinnen wir uns also wieder
neu auf die Konsequenzen dieser uralten
Weisung: Kein Mensch und keine Institution,
kein Staat und auch keine Kirche oder
Religionsgemeinschaft haben das Recht,
den Menschen die Unwahrheit zu sagen.
B. Dies gilt besonders:
• Für die Massenmedien, denen zu Recht
die Freiheit der Berichterstattung zur Wahrheitsfindung
garantiert ist und denen damit
in jeder Gesellschaft ein Wächteramt zukommt:
Sie stehen nicht über der Moral,
sondern bleiben in Sachlichkeit und Fairneß
der Menschenwürde, den Menschenrechten
und den Grundwerten verpflichtet. Sie
haben kein Recht auf Verletzung der Privatsphäre
von Menschen, auf Verzerrung der
Wirklichkeit und auf Manipulation der
öffentlichen Meinung.
• Für Kunst, Literatur und Wissenschaft,
denen zu Recht künstlerische und akademische
Freiheit garantiert sind: Sie sind
nicht entbunden von allgemeinen ethischen
Maßstäben, sondern sollen der Wahrheit
dienen.
• Für die Politiker und die politischen Parteien:
Wenn sie ihr Volk ins Angesicht belügen,
wenn sie sich der Manipulation von
Wahrheit, der Bestechlichkeit oder einer
rücksichtslosen Machtpolitik im Inneren
wie im Äußeren schuldig machen, haben
sie ihre Glaubwürdigkeit verspielt und verdienen
den Verlust ihrer Ämter und ihrer
Wähler. Umgekehrt sollte die öffentliche
Meinung diejenigen Politiker unterstützen,
die es wagen, dem Volk jederzeit die Wahrheit
zu sagen.
• Für die Repräsentanten von Religionen
schließlich: Wenn sie Vorurteile, Haß und
Feindschaft gegenüber Andersgläubigen
schüren, wenn sie Fanatismus predigen
oder gar Glaubenskriege initiieren oder legitimieren,
verdienen sie die Verurteilung der
Menschen und den Verlust ihrer Gefolgschaft.
Niemand täusche sich: Es gibt keine
Weltgerechtigkeit ohne Wahrhaftigkeit und
Menschlichkeit!
C. Deshalb sollten schon junge Menschen
in Familie und Schule lernen, Wahrhaftigkeit
in Denken, Reden und Tun einzuüben.
Jeder Mensch hat ein Recht auf
Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Er hat das
Recht auf die notwendige Information und
Bildung, um die für sein Leben grundlegenden
Entscheidungen treffen zu können.
Ohne eine ethische Grundorientierung freilich
vermag er kaum das Wichtige vom Unwichtigen
zu unterscheiden. Bei der heutigen
täglichen Flut von Informationen sind
ethische Maßstäbe eine Hilfe, wenn Tatsachen
verdreht, Interessen verschleiert,
Tendenzen hofiert und Meinungen verabsolutiert
werden.
D. Wahrhaft Mensch sein heißt im Geist
unserer großen religiösen und ethischen
Traditionen das Folgende:
• Statt Freiheit mit Willkür und Pluralis-
Parlament der Weltreligionen
13
mus mit Beliebigkeit zu verwechseln, der
Wahrheit Geltung zu verschaffen;
• statt in Unehrlichkeit, Verstellung und
opportunistischer Anpassung zu leben, den
Geist der Wahrhaftigkeit auch in den alltäglichen
Beziehungen zwischen Mensch und
Mensch zu pflegen;
Ungezählte Menschen bemühen sich in allen
Regionen und Religionen um ein Leben
im Geiste der Partnerschaft von Mann und
Frau, um ein verantwortliches Handeln im
Bereich von Liebe, Sexualität und Familie.
Dennoch gibt es überall auf der Welt verdammenswerte
Formen des Patriarchalismus,
der Vorherrschaft des einen Geschlechtes
über das andere, der Ausbeutung
von Frauen, des sexuellen Mißbrauchs
von Kindern sowie der erzwungenen Prostitution.
Die sozialen Unterschiede auf dieser
Erde führen nicht selten dazu, daß insbesondere
Frauen und sogar Kinder aus den
weniger entwickelten Ländern sich gezwungen
sehen, Prostitution als Mittel des
Überlebenskampfes einzusetzen.
A. Aus den großen alten religiösen und
ethischen Traditionen der Menschheit aber
vernehmen wir die Weisung: Du sollst nicht
Unzucht treiben! Oder positiv: Achtet und
liebet einander! Besinnen wir uns also wieder
neu auf die Konsequenzen dieser uralten
Weisung: Kein Mensch hat das Recht, einen
anderen zum bloßen Objekt seiner Sexualität
zu erniedrigen, ihn in sexuelle Abhängigkeit
zu bringen oder zu halten.
B. Wir verurteilen sexuelle Ausbeutung
und Geschlechterdiskriminierung als eine
der schlimmsten Formen der Entwürdigung
des Menschen. Wo immer – gar im Namen
einer religiösen Überzeugung – die Herrschaft
eines Geschlechts über das andere
gepredigt und sexuelle Ausbeutung toleriert,
wo immer Prostitution gefördert oder
Kinder mißbraucht werden, da ist Widerstand
geboten. Niemand täusche sich: Es
gibt keine wahre Menschlichkeit ohne partnerschaftliches
Zusammenleben!
C. Deshalb sollten schon junge Menschen
in Familie und Schule lernen, daß
Sexualität grundsätzlich keine negativ-zerstörende
oder ausbeuterische, sondern eine
schöpferisch-gestaltende Kraft ist. Sie hat
die Funktion einer lebensbejahenden Gemeinschaftsbildung
und kann sich nur entfalten,
wenn sie in Verantwortung für das
Glück auch des Partners gelebt wird.
D. Die Beziehung zwischen Mann und
Frau sollte nicht durch Bevormundung oder
Ausbeutung bestimmt sein, sondern durch
Liebe, Partnerschaftlichkeit und Verläßlichkeit.
Menschliche Erfüllung ist nicht mit
sexueller Lust identisch. Sexualität soll Aus-
• statt ideologische oder parteiische Halbwahrheiten
zu verbreiten, in unbestechlicher
Wahrhaftigkeit die Wahrheit immer
neu zu suchen ;
• statt einem Opportunismus zu huldigen,
in Verläßlichkeit und Stetigkeit der einmal
erkannten Wahrheit zu dienen.
Erklärung zum Weltethos
4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung
und die Partnerschaft von Mann und Frau
14
Weder sollen die Eltern die Kinder noch die
Kinder die Eltern ausnützen; ihr Verhältnis
soll vielmehr von gegenseitiger Achtung,
Anerkennung und Fürsorge getragen sein.
F. Wahrhaft Mensch sein heißt im Geiste
unserer großen religiösen und ethischen
Traditionen das Folgende:
• statt patriarchaler Beherrschung oder
Entwürdigung, die Ausdruck von Gewalt
sind und oft Gegengewalt erzeugen, gegenseitige
Achtung, Verständnis, Partnerschaftlichkeit
;
• statt jeglicher Form von sexueller Besitzgier
oder sexuellem Mißbrauch gegenseitige
Rücksicht, Toleranz, Versöhnungsbereitschaft,
Liebe.
Auf der Ebene der Nationen und Religionen
kann nur praktiziert werden, was auf
der Ebene der persönlichen und familiären
Beziehungen bereits gelebt wird.
druck und Bestätigung einer partnerschaftlich
gelebten Liebesbeziehung sein.
Manche religiöse Traditionen kennen
auch das Ideal des freiwilligen Verzichts auf
die Entfaltung der Sexualität. Auch freiwilliger
Verzicht kann Ausdruck von Identität
und Sinnerfüllung sein.
E. Die gesellschaftliche Institution Ehe
ist bei allen kulturellen und religiösen Verschiedenheiten
durch Liebe, Treue und
Dauerhaftigkeit gekennzeichnet. Sie will
und soll Männern, Frauen und Kindern Geborgenheit
und gegenseitige Unterstützung
garantieren sowie ihre Rechte sichern. In
allen Ländern und Kulturen soll auf ökonomische
und gesellschaftliche Verhältnisse
hingearbeitet werden, die eine menschenwürdige
Existenz von Ehe und Familie und
vor allem auch der alten Menschen ermöglichen.
Kinder haben ein Recht auf Bildung.
Parlament der Weltreligionen
IV.Wandel des Bewußtseins
sagen und Scheitern haben Konsequenzen.
Diese Verantwortung wachzuhalten, zu
vertiefen und an künftige Generationen
weiterzugeben ist die besondere Aufgabe
der Religionen. Dabei bleiben wir realistisch
in bezug auf das in diesem Konsens
Erreichte und dringen darauf, das Folgende
zu beachten:
1. Ein universaler Konsens für viele umstrittene
ethische Einzelfragen (von der
Bio- und Sexualethik über die Medien- und
Wissenschaftsethik bis zur Wirtschafts- und
Staatsethik) ist schwierig. Doch im Geist
der hier entwickelten gemeinsamen Grundsätze
sollten sich auch für viele bisher um-
Alle geschichtlichen Erfahrungen zeigen es:
Unsere Erde kann nicht verändert werden,
ohne daß ein Wandel des Bewußtseins
beim Einzelnen und der Öffentlichkeit erreicht
wird. Dies hat sich in Fragen wie
Krieg und Frieden, Ökonomie oder Ökologie
bereits gezeigt, wo in den letzten Jahrzehnten
grundlegende Veränderungen erreicht
wurden. Diese müssen auch im Hinblick
auf das Ethos erreicht werden! Jeder
Einzelne hat nicht nur eine unverletzliche
Würde und unveräußerliche Rechte; er hat
auch eine unabweisbare Verantwortung für
das, was er tut und nicht tut. Alle unsere
Entscheidungen und Taten, auch unser Ver15
strittene Fragen sachgerechte Lösungen finden
lassen.
2. In vielen Lebensbereichen ist bereits
ein neues Bewußtsein für ethische Verantwortung
erwacht. Wir begrüßen es deshalb,
wenn für möglichst viele Berufsklassen wie
zum Beispiel Ärzte, Wissenschaftler, Geschäftsleute,
Journalisten, Politiker zeitgemäße
Ethikcodes ausgearbeitet werden, die
konkretere Richtlinien bieten für die brisanten
Fragen ihres jeweiligen Berufsstandes.
3. Vor allem drängen wir die einzelnen
Glaubensgemeinschaften, ihr ganz spezifisches
Ethos zu formulieren: Was hat jede
Glaubenstradition zu sagen etwa über den
Sinn von Leben und Sterben, über das
Durchstehen von Leid und die Vergebung
von Schuld, über die selbstlose Hingabe
und die Notwendigkeit von Verzicht, über
Mitleid und Freude. Dies alles wird das
schon jetzt erkennbare Weltethos vertiefen,
spezifizieren und konkretisieren.
Zum Schluß appellieren wir an alle Bewohner
dieses Planeten: Unsere Erde kann
nicht zum Besseren verändert werden,
ohne daß das Bewußtsein des Einzelnen geändert
wird. Wir plädieren für einen individuellen
und kollektiven Bewußtseinswandel,
für ein Erwecken unserer spirituellen
Kräfte durch Reflexion, Meditation, Gebet
und positives Denken, für eine Umkehr der
Herzen. Gemeinsam können wir Berge versetzen!
Ohne Risiko und Opferbereitschaft
gibt es keine grundlegende Veränderung
unserer Situation! Deshalb verpflichten wir
uns auf ein gemeinsames Weltethos: auf ein
besseres gegenseitiges Verstehen sowie auf
sozialverträgliche, friedensfördernde und
naturfreundliche Lebensformen.
Wir laden alle Menschen, ob religiös
oder nicht, ein, dasselbe zu tun!
Erklärung zum Weltethos
Hans Küng, Projekt Weltethos (Piper, München 1990; Serie Piper 1659, München 1992).
Hans Küng – Karl-Josef Kuschel (Hg.), Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des
Parlamentes der Weltreligionen (Serie Piper 1958, München 1993).
Literatur zur Grundlegung und Erläuterung
© 1993 by Council for a Parliament of the World Religions, Chicago,
prepared by Hans Küng and published with commentaries by Piper Verlag (München),
Continuum Publishing (New York), SCM Press (London), Arator Oy (Helsinki),
Editorial Trotta (Madrid), Les Éditions du Cerf (Paris), Gün Yayincilik (Ankara),
Bon-Books (Tokyo), Rizzoli Libri (Milano), The Amity Foundation (Nanjing - Hong Kong)
16
shops zur Vertiefung der Thematik eines Weltethos;
– Öffentlichkeitsarbeit im Dienst eines Weltethos
mit Hilfe der Medien (Zeitungsartikel,
Interviews, Rundfunk- und Fernseharbeit).
III. Ermöglichung und Unterstützung der zur
Forschungs- und Bildungsarbeit notwendigen
interkulturellen und interreligiösen
Begegnung:
Dieser Zweck wird verwirklicht insbesondere
durch
– Anregung und Förderung von Initiativen im
Bereich von Gesellschaft, Politik und Kultur im
Interesse der Völkerverständigung (z. B. »vertrauensbildende
Maßnahmen« zwischen den
Religionen);
– Förderung der Begegnung von Menschen
unterschiedlicher Kulturen und Religionen
(Kolloquien, Studienreisen, Kongresse);
– Ausbau des vorhandenen Netzwerks interkultureller
und interreligiöser Beziehungen zur
Förderung eines globalen Ethos;
– Schaffung des Zugangs zu Schlüsseldokumenten
und Literatur mit Hilfe moderner
Kommunikationstechnologien.
I. Durchführung und Förderung interkultureller
und interreligiöser Forschung:
Dieser Zweck wird verwirklicht durch theologische
und religionswissenschaftliche Grundlagenforschung,
insbesondere durch die Erstellung
und Förderung wissenschaftlicher
Publikationen (Bücher, Artikel) im Interesse
interkultureller, interreligiöser und interkonfessioneller
Verständigung.
II. Anregung und Durchführung interkultureller
und interreligiöser Bildungsarbeit:
Dieser Zweck wird verwirklicht insbesondere
durch
– Lehr- und Vortragstätigkeit zur Verbreitung
der erarbeiteten Forschungsergebnisse, insbesondere
der Ideen eines grundlegenden, allen
Menschen gemeinsamen Ethos, eines Weltethos,
in Gemeinden, Volkshochschulen, Akademien,
Schulen, Hochschulen, Verbänden,
Parteien, Interessengruppen aller Art, national
und international;
– Fortbildung Interessierter durch Tagungen,
Vorträge, Gastvorträge, Seminare oder Work-
Aufgaben der Stiftung:
Vorstand
Geschäftsführer
Anschrift
0 70 71 6 26 46
0 70 71 61 01 40
office@stiftung-weltethos.uni-tuebingen.de
www.uni-tuebingen.de/stiftung-weltethos
Deutsche Bank Tübingen (BLZ 640 700 85)
Konto 12 12 620
Telephon
Telefax
E-mail
Internet
Bank
Graf K. K. von der Groeben
Prof. Dr. Hans Küng
Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel
Dipl.-Theol. Stephan Schlensog
Waldhäuser Straße 23
D-72076 Tübingen
Diese Ausgabe der Weltethos-Erklärung wurde ermöglicht von der

Keine Kommentare: