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Widmung

Dem, was andere schon sagten, kann ich nichts Neues hinzufügen; zudem bin ich kein begabter Poet. Ich gebe nicht vor, anderen von Nutzen zu sein: Um meinen eigenen Geist zu üben, habe ich dieses Werk verfaßt.

Ahimsayama

Rosinen im Kopf

Vor einiger Zeit habe ich an einem Vortrag teilgenommen, bei dem es um Achtsamkeit im Alltag ging.
Ja, Achtsamkeit im Alltag. Was ist das und wie geht das? Im Grunde ist sie ganz einfach und dennoch nicht so einfach zu erklären. Intellektuell, abstrakt, mit Fakten. Aber darum geht es im Buddhismus im Grunde nicht.

Wir saßen also in einer Gruppe von etwa 15 Menschen in diesem Raum. Die Vortragende verteilte Rosinen. An jeden nur eine. Zuerst die Frage an die Teilnehmer, ob sie sich vorstellen könnten diese Rosinen zu essen. Auch Herr Biolek macht sich in seiner Kochsendung immer wieder einen Spaß daraus, daß viele seiner Freunde ja gar keine Rosinen mögen, er sie aber dennoch in Soßen schmuggele, um das richtige Verhältnis von Süße, Schärfe und Säure zu erreichen. Mmm.
"Wenn sie nicht wissen, daß Rosinen in der Soße sind, essen sie sie mit Genuß", sagt er dann meist und grinst. "Nur verkocht müssen sie sein."
Wie erwartet waren nicht wenige der Gruppe schon fast militante Gegen einer solchen Rosine. Woran es liegt ist für mich schwer zu sagen. Liegt es an der Konsistenz oder an der Vorstellung nichts "verfaultes" essen zu wollen? Eine Vorstellung, die weit in die Welt unserer Vorfahren zurückreichen dürfte. Verfaulte Dinge führen erfahrungsgemäß zumindest zu Unwohlsein, wenn nicht gar zu Übelkeit und Brechdurchfall. Nicht gut. Darwin läßt grüßen. Es mag eine tiefe und feste Verankerung hierfür geben. Schon ein wenig eigentümlich, wenn man an die ihr innewohnende Süße denkt, die ein solche Rosine besitzt und was Menschen auf sich nehmen, um z.B. an Honig zu kommen. Welt der Spekulation, denn ich esse Rosinen gerne. Sauerbraten ohne Rosinen in der Soße ist unmöglich. Da verzichte ich eher auf Pferdefleisch. Aber keine Rosinen! Das geht gar nicht.

Wir sollten uns diese Rosine also erst einmal genau ansehen. Alle machten mit bei diesem Versuch. Wie sieht eine Rosine eigentlich aus? Braun, runzelig, oval, mit Stielansatz. Manchmal läßt sich im Inneren etwas erkennen. Blütenansatz.
Wie fühlt sich eine Rosine denn so an?
Nun, pastös mit einer festen Hülle. Läßt sich gar nicht so leicht zerdrücken. Widersetzt sich der Zerstörung. Selbst Reiben zwischen den Fingern verändert sie nicht sonderlich.
Wie riecht eine Rosine?
Gar nicht. Als Raucher mit einer vereinzelten Rosine in der Hand?
Jetzt kamen wir an den Punkt, der die Geister hätte scheiden können.
Wie fühlt es sich an, die Rosine zwischen den Lippen zu bewegen?
Erstaunlich überdimensional...
So ging es noch einige Schritte weiter. Eine ganz andere Dimension meiner Erfahrungswelt bezüglich einer einzelnen Rosine tat sich auf. Es mag sein, daß ich in meinem Leben wohl einige tausend Rosinen gegessen habe. Aber diese eine war zu einer ganz besonderen geworden. Sie hatte es geschafft, eine Geschmacksexplosion hervorzurufen. Eine intensive Süße tat sich auf, die von einer extrem widerstandsfähigen Hülle umgeben war. Der Geschmack war so intensiv, daß er so gar nicht mehr vergehen wollte. Ich muß unglaubliches Glück gehabt haben, gerade diese eine aus der Tüte gefischt zu haben. Doch das bestätigten zu meiner vollständigen Verwirrung auch die anderen Teilnehmer. Sogar jene, die gar keine Rosinen essen. Also normalerweise.
Ja, normalerweise.
Zum Abschluß der Achtsamkeitsübung wurde die Frage gestellt, ob diejenigen, die keine Rosinen essen, nun zu Rosinenessern geworden wären. Das wurde fast militant verneint...

Ist eine Rosine nun eine Rosine oder gibt es unterschiedliche Rosinen? Ganz besondere Rosinen! Gibt es überhaupt Rosinen? Oder habe ich Rosinen im Kopf?

Wychmannus comes

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