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Widmung

Dem, was andere schon sagten, kann ich nichts Neues hinzufügen; zudem bin ich kein begabter Poet. Ich gebe nicht vor, anderen von Nutzen zu sein: Um meinen eigenen Geist zu üben, habe ich dieses Werk verfaßt.

Ahimsayama

In den Falten ihrer Seele ist Trauer verborgen

Der Blick eines Japaners auf Deutschland, Europa, die USA und Japan. Ein Aufsatz des Diplomaten Yoshitaka Hanada, der von 2006 bis 2009 Generalkonsul seines Landes in Frankfurt am Main war, erschienen in der F~A~Z (Link oben im Header).

Manchmal ist der Blick auf die Dinge leicht verstellt. Betriebsblindheit meinen manche. Versunken in die eigenen Sorgen und Probleme, kann eine Reise da Abhilfe schaffen. Sie kann den Horizont wieder erweitern. Im Kontrast der Kulturen tun sich neue Wege auf. Hoffnungen. Wohltuende Sanftheit und Seelenmassage.


Welch behagliche Kultur, welche Kraft der Autos, welche Betrübnis der Seelen:

Nach Europa kam ich in der Absicht, herauszufinden, was denn das “Alte” ist und was Deutschland ausmacht. Dabei machte ich zum einen die Erfahrung, dass das gute, alte Europa dort noch in Blüte stand, wo sich die Monarchie erhalten hatte. Sie und die Eliten haben die europäische Kultur geformt: eine prunkvolle und luxuriöse Kultur, die sich auf einen Reichtum gründete, der alles andere unterdrückte. Dieses “Alte” der europäischen Kultur hat noch eine weitere Seite: eine behagliche Kultur, die sich in dezentralen Verhältnissen herausgebildet hat und vom Volk geprägt wurde. Deutschland ist ein dezentrales Land. Frankfurt ist nur eines von vielen Zentren. Die Gesellschaft kennt nicht, wie Tokio, einen einzigen Pol, auf den sich alles konzentriert; die Zentren verteilen sich über das ganze Land. Für Japaner ist es geradezu unglaublich, dass der Frankfurter Flughafen nur wenige Minuten von der Innenstadt entfernt ist. Die Menschen können an Orten, die sich ins Gigantische gewandelt haben, nicht leben. Im Leben der Menschen gibt es so etwas wie einen Maßstab der räumlichen Selbstbeschränkung, damit die Leute untereinander kommunizieren können. In den Dörfern in Deutschland geht man morgens Brot kaufen und führt ein Gespräch mit den Leuten im Laden. Auf dem Markt trinkt man Milch; sie schmeckt, und man fragt, wo sie erzeugt wurde. Solche angenehmen Seiten braucht der Mensch in seinem Leben. Ein Leben wie in Tokio und in New York widerspräche dieser stillen, menschlichen Denk- und Lebensweise – und die ist Teil des “guten, alten Europa”.

Dabei habe ich stets an meine Heimat gedacht: War der Weg Japans nach dem Krieg richtig? Deutschland und Japan hatten die gleiche Startposition. Aber ist Japan 60 Jahre nach dem Krieg nicht in eine “falsche” Lage geraten? Japan hat zwar ein hohes Wirtschaftswachstum erzielen können; es ist die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Aber wenn man nach den Lebensverhältnissen der Leute fragt, wo in Japan gibt es dann heute noch ein solch reichhaltiges, angenehmes Leben? Deutschland und Japan sind beide stolz auf ihre Hochtechnologie, in der industriellen Fertigung sind sie führend. Wenn man die hergestellten Dinge aber genauer betrachtet, so weisen die deutschen und die japanischen Produkte große Unterschiede auf, selbst wenn es sich um die gleichen Produkte, die gleiche Hochtechnologie handelt: Das Japanische ist zart, fein, weiblich – das Deutsche imposant, gründlich, männlich. Dank der Technik sind japanische Autos fehlerfrei: Jedes einzelne Teil wird in feinster Präzision hergestellt, auf einem Niveau, das den Ansprüchen der Nasa genügen würde. Aber an Kraft kommen sie den deutschen Autos nicht gleich. Wenn ich in Deutschland auf der Autobahn fahre, dann spüre ich die Kraft der deutschen Autos, und diese Kraft ist eine Stütze der deutschen Maschinenbauindustrie. Auch die Gründlichkeit ist eine deutsche Eigentümlichkeit. Es gibt ein Autobahnnetz, das bis in jeden Winkel des Landes reicht; jede einzelne Strecke wird tadellos in Ordnung gehalten, die Fahrspuren sind immer klar erkennbar. Mit welcher Gründlichkeit dies geschieht, merkt man sofort, wenn man einmal ins benachbarte Ausland fährt.
Deutschland bewegt sich spät, aber wenn es sich einmal in Bewegung setzt, tut es das mit Gründlichkeit. Was die Deutschen herstellen, ist vollkommen. Alles ist enthalten, keine Wünsche bleiben offen. Deutschland legt bei der Schaffung von Systemen in unvergleichlicher Weise Stärke an den Tag. Verfügt es aber auch über die gleiche Kraft, diese Systeme zu erhalten und zu betreiben? Es versteht sich von selbst, dass für das Planen und Erstellen von Systemen sowie bei deren Erhaltung und Betrieb unterschiedliche Fähigkeiten zum Tragen kommen. Während bei der Planung und Schaffung vor allem Kreativität wichtig ist, erfordern der Erhalt und die Umsetzung vor allem stete Achtsamkeit für das System als Ganzes, eine improvisierende Reaktion auf die jeweiligen Umstände – mit anderen Worten: eine flexible Gewandtheit. Ist das eine Stärke der Deutschen?
Wenn ich Deutschland betrachte, kommt es mir in den Sinn, wie sehr das Volk zweigeteilt ist. Es gibt eine große Kluft zwischen der Elite und dem breiten Volk. Diese Kluft wird durch das deutsche Bildungssystem weiter vergrößert. Systeme werden von nur wenigen herausragenden Köpfen geschaffen, aber viele Menschen müssen sie betreiben und warten.
Hier leisten die Japaner Hervorragendes, bei der Schaffung von Systemen sind sie ungeschickt. Verfügt man in Deutschland wohl in dem gleichen Maße über flexible Anpassungsfähigkeit, wie man Hervorragendes leistet beim Entwerfen von Systemen? Dies kommt mir beim Betrachten der Infrastrukturen von Eisenbahn und Post in den Sinn. Der Schlüssel zum Verständnis Deutschlands, so ist mir berichtet worden, seien nicht die Imposantheit und die Gründlichkeit, sondern gewiss auch der Romantizismus und der Pessimismus. Ein Herz, das so von Melancholie erfüllt ist, dass ihm gleich die Tränen kommen, wenn es zu Beginn des Herbstes die welken Blätter herabfallen sieht, soll es in Deutschland und in Russland geben, nicht aber etwa in Frankreich.
Eine Rückschau in die Vergangenheit zeigt, dass man aufgrund der Erfahrungen des Krieges umsichtig gegenüber der Zukunft geworden ist. Deshalb fürchtet man die Inflation. Dieser Pessimismus bildet einen Kontrast zum amerikanischen Optimismus. Wenn man die amerikanische Kultur als “Traum” bezeichnet, so ist die deutsche Kultur “Betrübnis”. Die kraftvolle, gründliche, männliche Kultur enthält Romantizismus und pessimistische “Betrübnis”. Wie konnten beide Wesensmerkmale miteinander verschmelzen? Weil die Menschen keine einseitigen Wesen sind. Einseitige Wesen sind monoton, langweilig. Auch wenn die Menschen kraftvoll auf männliche Weise leben, so ist doch in den Falten ihrer Seele Trauer verborgen. Dort existieren Kultur und Musik. Vielleicht ist es ein ganz besonders geschmackvolles Volk.
Die amerikanische Kultur kennt keine Tabus, sie reißt Beschränkungen nieder und wagt unbekümmert Neues. An den amerikanischen Mikrowellenherden gibt es neuerdings Hinweisschilder, die davor warnen, Hunde hineinzusetzen. An Waschmaschinen soll es Schilder gibt, dass dort keine Katzen gewaschen werden dürfen. Das mag symbolhaft sein für die amerikanische Prozessgesellschaft, aber bezeichnend für die amerikanische Gesellschaft ist das Ausschlagen ins Extrem.
Auch in Japan kann es ein Ausschlagen ins Extrem geben. Das Kobe-Rindfleisch wird erzeugt, indem man den Rindern Bier zu trinken gibt und sie massiert, damit sich das Fett über den ganzen Körper verteilt. Bis ins Detail ist festgelegt, in welchem Alter die Rinder was zu fressen bekommen, welche Massagen sie bekommen, welche Bewegungen sie machen dürfen. So entsteht jener feine, runde Geschmack. Das ist eine Kunst, und es ist der Beweis für die Feinheit der japanischen Kultur, die die Zartheit bis zum Äußersten treibt. So ist die japanische Warenproduktion, hier liegt das Geheimnis ihrer hohen Qualität. Aber es ist auch ein Extrem. Zwar liegt dies auf einer anderen Ebene als das Extrem, Katzen in der Waschmaschine zu waschen, aber ein solches Bemühen um die Qualität ist, gemessen am weltweiten Standard, eindeutig ein Extrem. In Japan verwendet man große Sorgfalt auf die Qualität der Waren. Nicht mehr als 60 Prozent aller Karotten, die geerntet werden, werden auf dem Markt angeboten. Die übrigen 40 Prozent werden weggeworfen, aber nicht etwa weil sie verdorben oder von schlechter Qualität wären. Es gibt festgelegte Normen für Waren, die auf dem Markt angeboten werden: Wenn die Karotte länger ist, als die Norm es gestattet, oder wenn sie nicht die richtige Form hat, wenn sie an der Spitze etwas gespalten ist. Diese Verschwendung ist außergewöhnlich und extrem.
Ist Deutschland frei von solchen Extremen? In Frankfurt ist das meiste im Krieg zerstört worden. Beim Wiederaufbau hat man den alten Zustand getreu wiederhergestellt, tatsächlich aber ist Frankfurt eine neue Stadt. Unvermittelt bleibt das Auge an etwas Neuem haften, stößt der Blick auf irgendein originelles Design: Neben der historischen, alten Schule ragt ein mit Stahlrohren durchzogenes Gebäude aus nacktem Beton in die Höhe. In Deutschland gibt es Orte, an denen die Dinge nicht in einer Verlängerung der bis dahin gewohnten Linie, sondern plötzlich in deren Veränderung in Erscheinung treten. Das zeigt sich auch in den Debatten, die Deutsche führen: Es wird das akzeptiert, dem der Gesprächspartner nichts entgegenzusetzen hat. In Japan aber kommt es vor, dass das Argument des Siegers in einer Debatte nicht akzeptiert wird, wie sehr jener auch gesiegt haben mag. Die Beurteilungskriterien in solchen Fällen sind der gesunde Menschenverstand, das Gefühl oder die Tradition. Die deutsche Gesellschaft kann den gesunden Menschenverstand, das Gefühl oder die Tradition außer Kraft setzen. Das ist das Extreme in der deutschen Gesellschaft – es ist, wie in Japan, aber auch ein Ausdruck der Ernsthaftigkeit, mit der man sich einem Problem zuwendet. Hier liegt die größte Gemeinsamkeit zwischen Deutschen und Japanern, zweier liebenswürdiger Völker voller Ernst.

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