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Widmung

Dem, was andere schon sagten, kann ich nichts Neues hinzufügen; zudem bin ich kein begabter Poet. Ich gebe nicht vor, anderen von Nutzen zu sein: Um meinen eigenen Geist zu üben, habe ich dieses Werk verfaßt.

Ahimsayama

Gegensprechanlagen

Kittel-Joe und der Waldkrautweißkauz

Ich bin in meinem unsteten abwechslungsreichen Arbeitsleben schon einer Menge Menschen begegnet. Na gut, vielleicht nicht so vielen, als wenn ich laufend anstrengende Konferenzen in Amman besuchen würde…

*Pruuuust* Wenn Sven das stehen lässt, wird das ein Inside-Runner wie seinerzeit die schlecht gefickte Brotspinne…

Also Menschen. Viele. Einige mochten mich, andere mochte ich nicht und ungekehrt. Und einige ganz wenige bekamen liebevolle und für mein Verständnis treffende Spitznamen, unter denen ich die Erinnerung an sie bewahren konnte.

Kittel-Joe ist so einer.

Seinen richtigen Namen ändere ich hier einmal in Jochen Kittlitz ab, denn er gehört immer noch zur Wachmannschaft des Dresdner Zoos. Vor Zeiten Wachobjektverantwortlicher, heute noch engagierter Mitarbeiter und aktives Mitglied des Vereins der Zoofreunde, wurde seine Mitarbeit einst als so wertvoll erachtet, dass die Zooführung beim Wechsel des Sicherheitsanbieters auf seiner Übernahme bestand.

Heute ist Kittel-Joe siebzig Jahre alt, bezieht Rente und soll langsam aber sicher in die Reservearmee überstellt werden, denn der Gute wird wirklich langsam ein wenig arg wunderlich.

Steif aufragend und schon etwas kugelbäuchig steht er hinter dem Informationstresen, der schlohweiße Schopf schwebt hoch über einer aufgebrachten Menge vergeblich um Aufmerksamkeit heischender Gäste, deren Räuspern und Murren in der ringsum herrschenden Kinderkakophonie untergeht und trägt hingebungsvoll die minutengenaue Abgangszeit der Reinemachefrau ins Dienstprotokoll ein. Wenn tausende von Besuchern an uns vorbeistürmen und ich mit meinen Ordnermädels kaum die Kontrolle behalte, verlässt Kittel-Joe seinen Posten und sappt los, um die Fahrradständer vor den Türen auf umgekippte Drahtesel zu kontrollieren. Mit weit ausholenden Armwedeleien dirigiert er die Besucher um, wenn an einer Kassenschlange drei Leute mehr stehen als an der anderen. Er vertieft sich zutiefst in ein tiefgründiges Gespräch mit einem durch Vereinsamung geschwätzig gewordenem Hutzelmenschen und jeglicher Ruf und Telefonklang prallen einfach an ihm ab.

Kittel-Joe legt sich regelmäßig mit dem Aquariumchef an, der als leidenschaftlicher Frühaufsteher gerne schon ab halb sechs an seinem Arbeitsplatz wäre, aber an der Dienstanweisung und Joe scheitert, weil erstere besagt, dass der Zoo-Eingang auch für die Mitarbeiter desselben erst um sechs Uhr zu öffnen ist und letzterer bis Punkt sechs niemanden reinlässt. Auch bei Regen nicht. Kittel-Joe ist nicht nur der Zerberus des Tores, sondern auch der Laurin der Akten, wenn er mit seinem Kugelschreiberzepter wedelt und akribisch jedes noch so kleine Ereignis vermerkt, jede nur denkbare Art von Wischen sortiert und archiviert und seine vielschichtig verschachtelte Statistik vervollständigt.

Und taub wird er auch langsam.

Es spricht für die Arbeitsatmosphäre hier, dass Kittel-Joe die vielen kleinen Schwächen und Eigenheiten, die er im Lauf der Jahre entwickelt hat, nicht angekreidet werden. Im Gegenteil, er gilt als Original, in dessen Gedächtnis eine unglaubliche Masse an Geschichten, Ereignissen und Personen gespeichert sind. Mehr als einmal erlebte ich, wie Kittel-Joe einen sich unauffällig nähernden Herren mit Handschlag und Namen begrüßte und auf meine anschließende Frage lakonisch antwortete: „Ehemaliger Pfleger/Inspektor/Futtermeister…“ Was auch immer, er kannte alle. Einige Pfleger arbeiten bereits in der dritten Generation im Zoo…Und Joe beherrscht ihre Stammbäume bis ins letzte Glied.

Nur der HelSchnellste ist er eben nicht mehr.

Der Zoo hat einen Wirtschaftshof, die Lieferungen kommen meistens dort an. Die Zufahrt sperrt ein automatisches Gittertor, das wir mit Kameras überwachen und vom Rechner aus bedienen können. Wer rein will, muss an der Sprechanlage sein Begehr kundtun. Manche Leute kennen wir. Viele nicht.

Es klingelt also. Kittel-Joe nimmt den Hörer auf und meldet sich. Mithören können wir das Gespräch nicht.

„Was…? Waldkauz…? Auf dem Hänger…?Wie viele…was?! Wieso Waldkauz…DER GANZE HÄNGER VOLL??!“

Ich habe noch nicht erwähnt, dass am Tor eine Baustelle ist und man den Lautsprecher kaum verstehen kann. Wir äugen auf den Monitor.

Auf dem Bildschirm ist ein PKW zu sehen, der einen Anhänger dabei hat. Dieser ist mit einem Planenaufbau versehen. Da passt was rein. Möglicherweise eine Voliere? Sollte da wirklich…Die armen Viecher. Kittel-Joe öffnet das Tor, knallt den Hörer auf und wählt sofort neu. „Da soll doch…!“

In der Verwaltung gibt es viele Nummern. Kittel-Joe hat alle im Kopf. Einige Mitarbeiter sind im Gelände unterwegs, andere erklären sich für rundweg inkompetent. Kittel-Joe wählt und wählt. Er greift sich die Liste mit den Handynummern. Er informiert, fragt an und überzeugt. Ja doch. Waldkauz. Eigentlich Käuze. Wenn ich´s doch sage…

Die Verwaltung befindet sich auf einem einzigen Flur, die Bürotüren stehen meistens offen. Die Nachricht von der Wagenladung Waldkäuze macht also schnell die Runde. Bis wahrscheinlich jemandem einfiel, dass ja gestern jemand angerufen hatte, allerdings wegen einer Spende. Einer Lieferung…

Weißkraut allerdings.

Ein korrigierender Anruf bei uns erfolgte nicht.

Gegen Mittag wurde Kittel-Joe zur Verwaltung gerufen, offiziell wegen einer Abrechnungssache. Knurrend griff er sich ein paar Papiere und zog los. Zurück kehrte er mit einer Urkunde.

kitteljoe

Und so wird der Mann, den wir liebevoll Kittel-Joe oder Häuptling Silberlocke nennen also nicht nur in die Annalen des Dresdner Zoologischen Gartens eingehen als der langjährige ehemalige Wachleiter und wandelndes Informationslexikon, sondern auch als der Entdecker des einmalig aufgetretenen Waldkrautweißkauzes.

Chapeau!

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